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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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gab. Er lächelte sie an und sagte hvala . Er mochte diese Lehrerin, er weiß
nicht mehr, ob sie Serbin oder Muslimin war, er denkt darüber nach, kann sich
aber nicht daran erinnern. Die Schule ist inzwischen nur noch ein Skelett, wie
das Gerüst eines nie fertiggestellten Hauses, das jemand angezündet hat. Die
Kinder spielen, er hat sie kommen sehen, hatte sie nicht erwartet. Er weiß nie,
was sich ihm bieten wird, worauf seine Aufmerksamkeit sich richten wird, auf
welches Ziel, auf welches cilj .
Das Wort gefällt ihm, cilj ,
denn es beschreibt seine tägliche Arbeit, und es ist ein sauberes Wort. Mann, Frau, Kind sind für ihn Wörter, die seine Mission
beschmutzen. Kinder sind kleine Ziele, maleni ciljevi , und eigentlich schießt er nicht auf
kleine Ziele, sie bewegen sich zu viel. Doch an diesem Morgen ist es ganz
leicht, es ist geradezu eine Einladung. Die maleni ciljevi sehen aus wie im Schnee verstreute
Kaninchen. Ihre Mütter haben sie aus dem Haus gelassen, sie konnten die Kinder
nicht den ganzen Tag in den feuchten Schutzräumen lassen, und vielleicht
wollten sie einmal ungestört sein, Wäsche waschen und eine Kräutersuppe kochen.
Der Scharfschütze sucht. Die Kinder sind Tupfen auf dem Schnee, kleine
Gestalten mit undeutlichen Umrissen. Er dreht an dem Rädchen, das das
Zielfernrohr seines Präzisionsgewehrs scharfstellt. Da ist ein Mischmasch aus
Schnee, aus Pulloverstückchen und aus Teilen von Gesichtern. Er ist zu nah
dran, das Bild grobkörnig. Er sucht nach der richtigen Fokussierung, rückt
näher, stellt scharf … Er holt sie aus dem Unbekannten, aus dem Schnee. Die maleni ciljevi sind jetzt Kinder. Er wandert mit dem
Fernrohr ein wenig umher, geht ein paar Schritte mit ihnen, folgt dem Spiel,
das sie spielen. Er spielte es auch, dieses Spiel, rodelte mit seinem Bruder in
einer Plastikkiste hinunter. Einmal prallte er gegen einen großen Stein, der
aus dem Schnee ragte. Er fragt sich, ob der noch da ist, sucht ihn und findet
ihn. Es gefällt ihm, Spuren seines vergangenen Lebens zu finden, auch wenn er
weiß, dass er nicht mehr zurückkehren wird. Er ist kein bisschen aufgeregt, es
ist, als würde er ein Terrain erkunden, für einen Jäger ist das wichtig. Bei
einem Kind hält er an. Er weiß nicht, warum er dieses und kein anderes
auswählt. Vielleicht weil es keine Mütze aufhat, seine Stirn ist frei, und als
es sich umdreht, sieht er die Vertiefung in seinem Nacken.
    Sollte ich Pietro das
erzählen? Er wurde geboren, und ich dachte an den Nacken des blauen Kindes, ich
sah ihn, er war vor meinen Augen, im Fadenkreuz eines Snipers. Die Stelle des
Haaransatzes, wo das Leben beginnt.
    Mein Herz schlägt in
dem des Scharfschützen. Ich bin es, die das Kind aussucht. Ich suche es aus,
weil sein Nacken unbedeckt ist und es kurzes, dichtes Haar hat, wie ein
Pelzköpfchen. Dieses Haar duftet. Und der Scharfschütze kann den Duft spüren.
Auch er hatte als Kind solches Haar, dicht, verhärtet vom Schweiß, lautlos. Das
Kind macht im Schnee gerade die letzten Schritte seines Lebens, es lacht, hat
rote Wangen und einen von der Kälte weißen Atem, es zieht den Schlitten
bergauf.
    Das Zielfernrohr auf
dem Gewehrlauf folgt den Schritten des Kindes und klettert mit ihm im Schnee
nach oben. Der Scharfschütze weiß nicht genau, wie er zu dieser Arbeit gekommen
ist, wie das genau passierte. Es waren die Umstände. Im Schnee sind Sandsäcke
aufgestapelt, er könnte das Ziel ändern und auf einen dieser Säcke schießen,
für ihn wäre das keinerlei Unterschied. Allerdings gibt es für jedes getroffene
Ziel eine satte Prämie in Mark, und auf diese Prämie ist er angewiesen, denn
der Soldatenlohn ist niedrig, und er will sich ein Auto kaufen, einen BMW mit aufklappbarem Verdeck. Er denkt
an das Auto, an die schwarzen Sitze, an den Zigarettenanzünder im
Armaturenbrett, er denkt an den Wind, der Leben in sein Haar bringen wird. Das
Kaninchen ist ein Kind, es geht mit seinem Haarschopf, mit seinem Nacken
weiter. Der Körper des Scharfschützen klebt am Gewehr, Körper und Gewehr sind
wie aus einem Guss. Das ist der Moment des Koitus, des unwillkürlich hart
werdenden Penis. Da ist kein Wille, außer dem des Projektils. Und der agiert,
der Scharfschütze lässt sich von seiner Erfahrung leiten. Er krümmt den Finger,
dann lässt er los. Es ist ein gefährlicher Moment, dieser lautlose Flug des
Projektils durch die weiße Luft. Wie ein Spermium, das sich unter der Linse
eines Mikroskops bewegt. Es könnte auf

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