Das schönste Wort der Welt
einige
Militärs entlanglaufen. Womöglich wartet er auf ein Zeichen. Ich warte auf den
Stempel, rot, wie einer für Tiere. Mein Herz steht still. Nur ganz leicht hebt
der Milizionär das Kinn, um einen Blick auf das in eine Decke gewickelte Baby
zu werfen. Es ist fünf Uhr abends und bereits dunkel. Das Gesicht des
Milizionärs ist rau von der Kälte, seine Nase breit und rot, ich spüre meine
Arme nicht mehr. Wieder fürchte ich, das Baby fallen zu lassen, während er mit
der Hand zur Decke fährt und die Öffnung erweitert, in der das Gesicht
verborgen ist. Seine Miene ist sonderbar, fast erstaunt, eine bittere Bestürzung.
Er zieht die Hand zurück und lässt mich passieren. Ich gehe einige Schritte in
den Frost hinaus. Windböen fegen vom Igman herab und wirbeln den Schnee auf,
der die Startbahn weiß färbt. Ich drehe mich um, weil ich hinter mir eine Leere
spüre. Es ist eine Leere, die ich schon kenne, die ich seit Monaten mit mir
herumtrage wie eine Vorahnung, die ich niedergehalten und weggedrückt habe.
Diego ist nicht mehr bei mir. Ich habe ihn verloren. Ich drehe mich um, doch
ich weiß, dass meine Suche vergeblich ist. Denn ich habe ihn schon vor langer
Zeit verloren. Und mir wird klar, dass er sich gerade von uns verabschiedet
hat.
Du brauchst überhaupt
keine Angst zu haben.
Vielleicht sollte ich
seinem Sohn erzählen, wie sich diese Leere anfühlte, dieses eingestürzte Leben.
Nun kommen die ersten Schritte, die wir allein gehen, als Waisen. Die wackligen
Schritte eines dieser langbeinigen Tiere, die, um zu überleben, gleich nach der
Geburt auf die Füße kommen müssen.
Ich sehe die kaum
erleuchtete Höhle des Flughafengebäudes, die hinter mir schwimmt, schon weit
weg in dieser vom Schneetreiben verschmierten Dunkelheit. Ich sehe nur Umrisse,
Schatten. Verstehe nicht, was vor sich geht. Diego steht neben dem Milizionär,
man hält ihn auf und lässt die anderen passieren, zwei Journalisten, die an mir
vorbeihasten. Er fuchtelt mit den Armen und schreit. Er gibt mir zu verstehen,
dass ich laufen soll, dass ich hier verschwinden soll.
Ich stolpere
vorwärts, den Kopf zurückgewandt, zu ihm. Im Osten wird geschossen, man sieht
den Schein der Leuchtspurgeschosse.
Ich klettere hoch und
werfe mich in den Eisenbauch des Flugzeugs. Warte an die Tür geklammert, das
Gesicht hart von der Kälte und vom Wind, der wie ein Messer schneidet. Das Baby
habe ich auf einer Bank abgelegt, neben einen Tornister. Vielleicht könnte ich
es dort zurücklassen. Es käme auf jeden Fall nach Italien, irgendwer würde sich
schon darum kümmern, ich könnte die Geburtsurkunde dazulegen und meinen Vater
im Holiday
Inn von einem
Satellitentelefon aus anrufen. Ja, ich könnte aussteigen, aus diesem Flugzeug
herausstürzen, das die Motoren gar nicht erst ausgeschaltet hat, zurück zu der
Glastür ohne Glas, zurück zum Körper meiner Liebe.
Sollte ich Pietro
auch davon erzählen? Von diesem Wunsch, ihn im Stich zu lassen, den Oberkörper
hinausgereckt in den eiskalten Wind der Startbahn?
»Weshalb lässt man
meinen Mann nicht durch?«
»Er hat seinen Pass
verloren.«
Der Soldat ist ein
großer, kräftiger Bursche mit einem Helm auf dem Kopf und mit einem venetischen
Akzent, er entschuldigt sich, sagt, sie könnten nichts tun, sie hätten
Hilfsgüter ausgeladen und flögen nun zurück, so sei der Befehl, sie hätten
nicht einmal gewusst, dass sie überhaupt Passagiere haben würden. Ich schaue
zum froststarren Igman hinauf.
» Ich bin ein Glückspilz. «
» Ach ja? «
» Ein großer Glückspilz. «
Vor vielen Jahren
fiel sein Glück zusammen mit dem Schnee vom Himmel, der den Abflug der
Maschinen verhinderte. Ich wollte ihm eine Ohrfeige geben, weil er gewonnen
hatte. Diese Ohrfeige steckt hier reglos in meiner erfrorenen Hand, die sich an
die Gangway klammert, während der Soldat sagt, ich solle zurücktreten, er müsse
die Tür schließen.
Ich habe es nicht
fertiggebracht, auszusteigen, Pietro im Stich zu lassen, mich für ein anderes
Schicksal zu entscheiden.
Der Wind schleudert
mich zurück, die Startbahn ist endlos und schwarz, und womöglich würde mich
ohnehin eine Kugel treffen. Ich sinke ins Flugzeug und möchte lebend in den
Himmel steigen.
Die Wahrheit ist,
dass ich mich entschieden habe, und Diego weiß das. Mit leeren Händen wäre ich
niemals fortgegangen. Doch nun habe ich dieses Bündel, das ich der Welt bringen
muss. Ich nehme den besten Teil von ihm mit mir fort, dieses neue Leben, das
noch mit
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