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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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zog mir langsam den Anorak und das
T-Shirt aus. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, auf einem Wangenknochen hatte
ich frischen Schorf und auf der Stirn einen schwarzen Fleck. Doch da war noch
etwas anderes, eine stumpfe Schicht wie bei Keramik, die keine Glasur mehr hat
und nun die Spuren der Zeit und des Schmutzes festhält.
    Die Tür ging auf, und
ein Mann kam herein, er warf mir im Neonlicht einen Blick zu, ich stand im BH da, meine Rippen traten unter der
fleischlosen Haut hervor. Der Mann trug eine schwarze Uniform, er lächelte.
    »Das hier ist das Klo
für kleine Jungs.«
    Ich presste das
T-Shirt an die Brust, um mich zu bedecken. Er schloss eine Tür hinter sich, ich
hörte ihn pinkeln, er kam wieder heraus. Ich hatte mich nicht gerührt, hatte
mir nicht einmal das T-Shirt angezogen.
    Der Mann geht zu dem
anderen Waschbecken. Er ist groß, hat bleierne Schritte und massige Schultern.
Er trägt eine Uniform mit einem breiten Ledergürtel in der Taille. Er schaut
auf und trifft im Spiegel auf meinen Blick. Er ist ganz einfach ein Mann, der
pinkeln war und sich die Hände waschen muss, doch das weiß ich nicht. Auch Wölfe
pinkeln und waschen sich die Hände. Ich habe Angst vor Männern in Uniform, ich
will meinen Jungen aus Genua, der so dünn ist wie ich, mit Haaren, so lang und
ungepflegt wie meine, und mit meiner ureigenen Geschichte in seinen Augen.
    Der Mann sieht mich
im Toilettenspiegel an.
    »Wessen ist das?«
    Da ist es, Giulianos
ganzes Leben, in diesem Waschraum, in den er zufällig geraten ist. Bis eben
hatte er noch vor, an der Autobahn zu pinkeln, er wollte schnell weg nach einem
Tag voller Hilfssendungen und Flüchtlingen, die auf die Auffanglager verteilt
werden mussten. Er ließ warme Mahlzeiten austeilen und Snacks für die Kinder,
er nahm die Kleinsten auf den Arm und füllte Formulare mit Bürokratie, mit
Stempeln. Im Spiegel mustert er das Baby im Waschbecken, er mustert auch die
Frau, die einen Fetzen an sich presst, ihre bläulichen Schulterblätter, auf die
Neonlicht prallt. Womöglich ist sie ein Flüchtling, der aus irgendeinem Grund
nicht in einen der Busse gestiegen ist und sich mit dem Kind in diesem
Waschraum versteckt hat. Ihre Augen sind die eines entschlossenen Tieres an
einem Abgrund.
    »Wessen ist das?«
    Jetzt bemerkt er,
dass die Frau weint, ohne auch nur zu blinzeln. Dicke Tränen, die wie Perlen
herabfallen. Unwillkürlich möchte er sie aufheben wie die Perlen einer
zerrissenen Kette und sie ihr wiedergeben. Er kennt den Blick von Flüchtlingen,
von Menschen, die die Bestätigung der eigenen Existenz in seinen Augen suchen,
als wäre er es, der die Entscheidung trifft, sie am Leben zu lassen. Solche
Blicke kann er nur schwer ertragen.
    Der Mann sieht mich
an. Er hat ein breites, wuchtiges, italienisches Gesicht und die glänzende
Stirn eines Mannes, der kaum noch Haare hat.
    »Wessen ist das?«
    Er weiß nicht,
Giuliano weiß nicht, dass dieses Kind seines sein wird, dass er es sein wird,
der es zur Schule und zum Kinderarzt bringt. Er weiß nicht, dass er für es
leben wird. Es ist ein langer Augenblick ruhiger Bestürzung in diesem
Waschraum, in dem das Schicksal fischt.
    Das Baby ist dreckig,
ein Röllchen undeutlichen Fleisches, ausgesetzt in einem Waschbecken. Es ist
Himmel in einem Loch.
    »Das ist meins!«
    Ich stürze vor, um
mir das Bündel zurückzuholen.
    »Entschuldigung.«
    Ich senke den Kopf,
schütze mich.
    Der Mann lächelt, er
hat schöne Zähne, ich sehe sie unter meinen verklebten Augen schwimmen,
verklebt von alten Tränen, die sich plötzlich gelöst haben wie Eisbrocken von
einem Felsen.
    »Dann sind Sie
Italienerin?«
    »Ja, ich bin
Italienerin.«
    Hastig verlasse ich
den Waschraum, laufe in dem dunklen Hangar umher und weiß nicht wohin. Ich muss
zum Bahnhof, einen Zug nach Rom finden. Oder ein Hotel, und ich muss meinen
Vater anrufen, muss das Baby wickeln, es stinkt, und ich stinke auch. Es muss
Hunger haben, verdammt, es muss Hunger haben, ich werde es noch umbringen,
verdammt, wo ist der Krieg? Wo sind die Sandsäcke? Wo ist das Eis? Wo ist der Trebević? Wo haben sich die Sniper versteckt?
Ich komme mit dem Frieden nicht zurecht, so ist das nämlich. Ich komme mit
meinen Schritten nicht zurecht. Hier wird man herausfinden, dass das Kind nicht
meines ist, hier ist kein Krieg, hier sind keine bombardierten Krankenhäuser,
die keine Stationen mehr haben und mich schützen, hier sind wir in der
Legalität des Friedens. Ich muss weg, sonst nehmen

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