Das schönste Wort der Welt
die Straße und die entgegenkommenden Autos.
Ich habe ihm meinen Platz überlassen.
»So kann ich mich
ausstrecken«, habe ich gesagt.
Doch das ist es
nicht, ich bin nicht müde.
Dies ist die letzte
Reise, die Diego gemacht hat, und ich möchte in aller Ruhe an ihn denken,
möchte ihn sehen, wie er gemeinsam mit mir die Serpentinen hinunterfährt. Wir
legen denselben Weg zurück, an einem ruhigen Sommermorgen, wie Touristen, die
genug von den Rundreisen im Inland haben und schwimmen gehen wollen.
Wir folgen dem
Neretva-Tal in südlicher Richtung.
Pietro hat schon eine
Weile nichts mehr gesagt und schaut aufmerksam auf die Straße. Er weiß, dass er
neben einem Kämpfer sitzt, einem Kriegsveteran, und stellt sich nun Phantome vor,
die aus diesen Wäldern kommen.
Er hat die Stöpsel
seines iPods in den Ohren und eine ausgebreitete Karte von Bosnien-Herzegowina
auf dem Schoß. Gojko lässt beim Fahren einen Arm aus dem Fenster hängen, in
einer Tour nimmt er die Hand vom Lenkrad, um in Pietros Tüte mit den Käsechips
zu greifen oder ihm etwas auf der Karte zu zeigen.
»Was hörst du denn
da?«
Pietro nimmt einen
Stöpsel heraus und steckt ihn Gojko ins Ohr.
»Vasco Rossi.«
Ein Lastwagen kommt
uns entgegen und rauscht haarscharf vorbei, er nebelt uns mit seinem Gestank
ein. Gojko scheint nichts davon mitzukriegen, er hat sich zu Pietro gedreht.
»Und was ist das für
einer?«
Pietro ist perplex:
»Was, den kennst du nicht?«
»Nein.«
»Er ist ein Dichter.«
Gojko nimmt den
Ohrhörer heraus: »Er klingt wie einer, der auf dem Klo sitzt und dem es nicht
aus dem Loch kommt.«
»Er füllt ganze
Stadien.«
Unser bosnischer
Ex-Dichter zuckt mit den Schultern: » Vafanculo , Dichter füllen keine Stadien!«
»Selber vafanculo , er aber doch!«
»Was ist denn deiner
Meinung nach ein Gedicht?«
Pietro lacht, macht pff , dreht sich zu mir und sagt: »Mann, sind wir hier etwa in der Schule?«
Gojko lässt nicht
locker.
»Also, wovon handelt
ein anständiges Gedicht?«
Pietro setzt an,
stammelt herum.
»Von Sachen, die dir
wehtun … Aber wenn du sie spürst, tun sie dir auch gut … Sie machen dich
hungrig.«
Gojko stößt einen
Freudenschrei aus: »Bravo!«
Dann fragt er ihn auf
den Kopf zu: »Hungrig wonach?«
Er sieht ihn an,
wartet auf eine Antwort, und vielleicht sind das die Augen, die er hatte, als
er sich anschickte, jemanden zu töten, als er den Abzug spannte und noch ein
paar Sekunden innehielt.
»Pff … nach einem
Brötchen oder nach einem Mädchen.«
Pietro lacht spröde,
er hat es eilig, von diesem Gespräch wegzukommen, das so ernst geworden ist wie
Gojkos Gesicht.
»Lass das Brötchen
weg, bleib bei dem Mädchen.«
Pietro nickt, und ich
weiß, dass er rot wird. Gojko wartet noch ein bisschen, dann lässt er den Abzug
wieder los.
»Hungrig nach Liebe«,
sagt er, und jetzt ist er derjenige, der unsicher ist.
Pietro nickt. Er
kannte die Antwort, hat sich aber geschämt, weil ich dabei bin.
»Ein guter Dichter weckt
den Hunger nach Liebe.«
Gojko lässt das
Lenkrad los und knufft Pietro in den Bauch.
»Genau da! Vergiss
das nicht.«
»Vasco Rossi weckt
den Hunger nach Liebe.«
Gojko wirft sich
gegen das Lenkrad und beißt hinein.
»Nach Wichsen! Er
weckt deinen Hunger nach Wichsen!«
Ich rege mich auf.
Wieder hat uns ein Lastwagen beinahe gestreift, die Straße ist jetzt schmal und
läuft an einem Felsen entlang, der in eine Schlucht abfällt. Gojko empfiehlt
mir, mich zu beruhigen, denn er sei ein ausgezeichneter Fahrer, auf diesen Straßen
fahre man eben so, mit Phantasie. Ich erkläre ihm, dass mir seine bosnische
Phantasie schnurzegal sei und ich keine Lust hätte, in einer von diesen
Schluchten zu landen, die das Gebirge zerschneiden. Ich habe Angst, Pietro
könnte etwas zustoßen, ein dummer Unfall, wie bei Diego.
Gojko sucht mich mit
wollweichen Augen im Rückspiegel.
»Ich habe euch doch
schon mal in Sicherheit gebracht, entspann dich.«
Er zwinkert mir zu,
und mir kommt es jetzt so vor, als habe er noch einen Rest Gemeinheit an sich.
Der Blick ist ein Dreckspritzer.
Die Neretva ist
breiter geworden, offener, sie scheint kein Fluss, sondern ein Stück Meer zu
sein oder ein großer, kristallklarer See. Wir halten an. Aus der Tiefe weht ein
frischer Dunst zu uns herauf.
Wir lehnen an der
Brüstung der langen Eisenbrücke, die das Wasser teilt. Pietro fotografiert mich
mit seinem Handy, er lässt mich zweimal den Platz wechseln: Auf der einen Seite
ist zu viel Licht,
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