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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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und auf der anderen sieht man den Fluss nicht.
    »Wo soll ich mich
denn hinstellen?«
    Er lässt mich erneut
einige Schritte zurückgehen. Doch er scheint noch immer nicht zufrieden zu
sein.
    Sein Vater
fotografierte mich oft, ohne dass ich meine Position ändern musste,
unvermittelt und so, dass ich es nicht einmal bemerkte. Er konnte es nicht
ausstehen, wenn ich posierte, seine Bilder waren eine Ohrfeige, eine
Überraschung. Ich tauchte ab und zu auf seinen Filmen auf, Ich schaffe es nicht, dich in Ruhe zu lassen,
ich muss zurück zu dir , sagte er. Als ich später dann allein war, dachte ich in
Augenblicken, in denen ich am hässlichsten und am privatesten war, unzählige
Male, ja, jetzt, in dieser Spärlichkeit, hätte er mich fotografiert und mich
auf einem Stück Glanzpapier mir selbst zurückgegeben, er hätte mir meine
Gedanken gezeigt. Sieh,
wie du bist, Gemma, wie du dich quälst, wie unvernünftig du bist.
    Wir gehen ein Stück
am Fluss spazieren. Der Geruch nach Grillfleisch weht herüber. Mehrere Familien
sind dort, sie haben etliche Kinder, sie grillen auf einem Rastplatz. Pietro
fragt, ob er ein Foto machen dürfe. Eine Frau bietet ihm etwas Lammfleisch an,
er schüttelt den Kopf, doch dann nimmt er es an.
    » Hvala! «
    » Dobar dan! «
    Als wir wieder ins
Auto steigen, erkundigt sich Gojko, wie das Lamm sei, Pietro leckt sich die
Finger, Schmeckt
gut . Er hält
das Fleisch am Knochen und bietet es ihm an.
    »Willst du mal
kosten?«
    Gojko nimmt einen
viel zu großen Bissen, und Pietro regt sich auf. Sie zanken sich eine Weile wie
zwei Gleichaltrige, wie zwei hungrige Jungen, die noch wachsen müssen.
    Dann lässt Gojko laut
hörbar einen fahren. Pietro schreit Ist ja ekelhaft . Gojko sagt ungerührt: »Das ist ein
kleines lyrisches Werk.«
    Pietro kringelt sich
vor Lachen, sammelt sich und lässt selbst einen mörderischen Furz, der noch
bosnischer klingt als der Gojkos.
    »Hör mal, ein
Sonett.«
    Gojko ist außer sich
vor Glück. »Ungebundene Verse!«, krächzt er zwischen zwei Lachanfällen. Ich
schreie, ich wolle aussteigen, sie seien wirklich zwei Schweine.
    Noch mehr
Serpentinen, noch mehr silbrige Schluchten, wie weiße Bärte zwischen den
Wäldern.
    Mein Sohn und mein
Freund teilen sich wieder den iPod, und Gojko singt den Refrain des
italienischen Dichters mit, der ganze Stadien füllt.
    Vivere
… vivere … vivere …
    Die Bäume hier sind
hoch und einsam, sind himmelverschließende Kulissen an der für zwei Spuren zu
schmalen Straße, auf der man sich zwar streift, am Ende aber doch überlebt.
    Ein Hund, eine Reihe
aufgehängter Wäsche, ein Salatfeld, eine Dorfmoschee. Stationen gewöhnlichen
Lebens.
    Hier ist der Krieg
mit seinen Adlern und seinen Tigern durchgezogen, mit den alten Ultras von Roter Stern Belgrad , die Kapuzen trugen wie Henker.
    Sie zogen durch und
brannten die Dörfer nieder, brachten die Männer um, vergewaltigten die Frauen.
Zurück blieben dünne Kolonnen von Überlebenden auf der Flucht über Straßen, die
zu einem anderen Dorf führten, das das gleiche Ende genommen hatte. So drang
der Tod vor, wie der Wind vom Meer. Man fragt sich, wie sie es schaffen, dieses
Land zu bestellen, diese Tomatenreihen und diesen Wirsingkohl zu ziehen. Und ob
die aus dem Wald kommenden Wiedehopfe in der Nacht den Schrei der Seelen
zurückbringen. Tote auf Lastwagen, abgeladen wie Müll.
    Gojko erzählt, was
die Überlebenden in jenen Jahren taten. Sie warteten darauf, zur
Identifizierung gerufen zu werden. Vor einem Tisch standen sie Schlange, um
sich Knochenstücke, kaputte Brillen, Adidas-Schuhe, Jeansfetzen von Rifle oder
Levi’s und Swatch-Uhren anzusehen.
    »Denn es sind Tote
unserer Zeit, und sie trugen unsere Marken.«
    Pietro hört auf zu
fotografieren.
    Wie lange dauert es,
einen Landstrich zu säubern, in den die Strahlen des Bösen so tief eingedrungen
sind?
    Erst sechzehn Jahre
sind vergangen, das Alter meines Sohnes, des jungen Nackens, der vor mir sitzt.
    Sein Vater sagte, der
Nacken bewahre den Duft der Geburt, des Windes, der den Samen brachte. Wie eine
Furche in der Erde.
    Wir halten in Mostar.
Pietro will die berühmte Brücke fotografieren. Wir schlendern durch die Gassen
aus in den Lehm gedrückten Kieselsteinen. Es herrscht ein unbeschwertes
Treiben, da sind Touristen, die in Badelatschen herumspazieren, und kleine
Boutiquen mit Krimskrams.
    Die Stadt ist diese
Brücke, man nannte sie die Alte Brücke und dachte dabei an einen alten Freund, an einen Rücken aus

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