Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
Vom Netzwerk:
neben
mich, es gibt keine weiteren Stühle, er rutscht an der Säule herunter und setzt
sich auf die Fersen, wie ein großer Vogel.
    »Und ich, wo war
ich?«
    »Du musstest erst
noch geboren werden.«
    »Und hattest du keine
Angst?«
    »Wovor denn?«
    »Na, du warst doch
schwanger, hattest du keine Angst, im Krieg schwanger zu sein?«
    Ich nicke, schniefe
und sage, dass ich wohl gerade krank werde, ich hätte mich im Regen erkältet,
meine Schuhe seien nass. Pietro wirft einen Blick auf meine Füße und trollt
sich. Ich sehe ihn naschen, er greift sich ein belegtes Brot, legt es wieder
hin und nimmt sich ein anderes. Inzwischen sind einige Besucher gekommen,
Grüppchen von zwei, drei Leuten, sie bleiben vor den Fotowänden stehen und
plaudern mit einem Glas in der Hand. Hinten in der Ecke bin nur ich. Obwohl ich
die Fotos schon kenne, beeindruckt es mich, sie an dieser Wand ausgestellt zu
sehen.
    Ich sehe mir die
Details an, eine Hand, einen Vogel, der den Himmel verkleckst, die in eine Ecke
geworfene Stoßstange eines Autos. Ich sehe Sebina an, ihre knopfrunden Augen,
diesen komischen Mund, an den Rändern fein, in der Mitte voll und rot wie eine
Zunge.
    Ich muss lächeln,
denn ich kenne diesen Gesichtsausdruck nur zu gut, es ist der eines
Räuberhauptmanns, einer kleinen Tyrannin des Wohnviertels.
    »Komm mal her, Bijeli biber. «
    So nannte ich sie, Weißer Pfeffer .
    Dann kam sie herbei,
mit ihren verträumten Augen und dem Grübchen am Kinn, so makellos wie das Bett
einer Perle. Ich versteckte ein Bonbon in meinen geschlossenen Händen, und sie
musste erraten, in welcher es war. Sie riet immer richtig.
    » Bijeli biber , du musst lernen, hast du
verstanden?«
    Sie nickte, mit dem
Drang, schnell wegzukommen. Ich sagte Gojko, er solle auf sie aufpassen, solle
sie nicht zu lange auf der Straße lassen.
    »Was soll Sebina denn
mal machen, wenn sie nicht lernt?«
    Gojko erfreute sich
an dieser spitzbübischen Schwester wie an einem entzückenden Geschenk.
    »Sie wird Künstlerin,
sie kann Schlittschuh laufen, sie kann auf dem Seil balancieren, und sie ist
verlogen.«
    Manchmal war sie
verstockt, dann grüßte sie nicht einmal mehr und spielte nur verbissen mit den
klappernden Kugeln, die ihr Bruder eine Zeitlang importiert hatte, die jedoch
nicht so ein Erfolg waren wie die Jo-Jos. Niemand konnte sich diese schlechte
Laune erklären. Doch ich konnte Sebina zum Reden bringen, konnte ihr die
Ursache für ihren Überdruss aus der Nase ziehen. Es war immer eine absolut
unvorstellbare, unsinnige Albernheit, und doch verstand ich sie. Als kleines
Mädchen war ich eine verrückte Perfektionistin gewesen, mehrmals am Tag von mir
selbst außer Gefecht gesetzt, genau wie Sebina.
    Sie wurde schwierig
und war sogar hässlich anzuschauen. Sie saß da, auf der Hofmauer, nuckelte an
ihren Haaren und gab jedem, der zu ihr kam, patzige Antworten. He, Weißer Pfeffer , ich umarmte sie. Und es war, als
umarmte ich einen zu harten Stolz, den weniger reizvollen Teil meiner selbst.
Jene zu schroffe Klippe, die es niemandem je gestattet hätte, mich bis auf den
Grund zu lieben. Sebina kam an meine Einsamkeit heran, wir waren gleich. Anmaßend
und dumm. Sie hängte sich an meinen Hals, und ich trug sie ins Haus zurück,
hoch zu ihrer Mutter, auf der Treppe ihre baumelnden Beine an meinem Körper.
Sie war geheilt, die Düsternis verflogen. Ich war nie eine von denen, die besonders
gut mit Rotznasen umgehen können, ich habe keine Geduld und rede nicht mit
piepsiger Stimme. Doch mit Sebina war das etwas anderes. Sie war ein
Gottesgeschenk für mich, eine Liebe im Voraus. Ich sehe noch einmal den
Treppenabsatz vor mir, auf dem ich Halt machte, um zwischen zwei Stockwerken
nach Luft zu schnappen, weil sie so schwer war, dazu das Grau des Hofes in dem
langen, geschliffenen Fenster, das Licht schon dunkel … und am Hals sie, ihr
Atem, ihr Rätsel.
    Pietro ist hinter
einer Säule stehen geblieben.
    »Und das hier, Ma?«
    Dieses Foto, über dem
Schirmständer an der Tür, habe ich noch gar nicht bemerkt.
    »Ist das von Diego?«
    Ich sage, ich sei mir
da nicht so sicher.
    »Da steht sein Name
drunter.«
    Es ist ein
grobkörniges Bild, unscharf, vielleicht ein Stück Mauer mit einem tiefdunklen
Fleck, umgeben von roten, auseinanderklaffenden Blütenblättern, eine Art Rose.
    »Was ist das?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Pietro gefällt es, er
betrachtet es länger.
    »Das bedeutet einen
Scheiß, aber irgendwie …«
    Er sagt, für ihn sehe
es aus wie

Weitere Kostenlose Bücher