Das schönste Wort der Welt
sieht nur die
Augen, die gewundenen Wege der Falten, die verschlissenen Münder. Keiner von
ihnen blickt sanft, alle scheinen auf ein und denselben Punkt in einer dunklen
Zone zu starren, die nichts von ihrer Geschichte als menschliche Wesen weiß. Es
ist, als wollten sie etwas von dem Objektiv wissen, das sie erforscht, eine
Antwort, die ihnen noch niemand geben konnte.
Diegos Fotografien
hängen im zweiten Raum. Ich setze mich auf einen Stuhl und schaue sie mir an.
Die Ausstellung ist für das Publikum noch nicht geöffnet, eine Frau stellt
Häppchen auf einen Tisch, auf dem ein Papiertischtuch liegt. Ich kenne die
Fotos schon, es gab keine Veranlassung, extra herzureisen, um sie anzuschauen.
Es sind nur wenige, sie nehmen eine kleine, hinter einer Säule versteckte
Seitenwand ein. Da ist die Frau, die vor den Scharfschützen davonläuft, die Haare
von der Flucht zerrissen, ein angehobenes Bein wie ein gebrochener Flügel. Da
ist die Badewanne zwischen den Trümmern, auf ihrem Rand ein Shampoo und in ihr
ein Toter, bedeckt mit dem grünen Tuch der Moslems. Da ist die alte Frau, die
im Schnee Wäsche abnimmt, die Arme greifen durch den Rahmen eines
geschlossenen, glaslosen Fensters. Da ist die Katze, die auf dem Fahrersitz
eines ausgebrannten Busses schläft. Da ist der Kinderwagen voller
Wasserkanister, gezogen von der lächelnden Sebina.
Pietro schlendert
herum, tritt dicht an die Wände, studiert die Schnappschüsse der Ausstellung.
Ich warte auf ihn. Und plötzlich finde ich Ruhe.
Zu Hause habe ich
haufenweise Fotos von Diego, versteckt auf dem Dachboden. Lange Zeit haben sie
mich am Leben erhalten. Ich wartete darauf, dass mein Kind einschlief, war
euphorisch und nervös. Als wollte ich zu einem Liebhaber davonlaufen. Ich
dachte tagelang, monatelang, nicht an sie. Wie beim Sex, für den ich auch nur
ein stets sprunghaftes Interesse hegte, bestehend aus plötzlichen Böen und dann
wieder aus Nichts, aus Vergessen. Am späten Nachmittag machte mich jede Tür im Haus
traurig, die Tür zum Flur, die Tür zum erloschenen Wohnzimmer. Überall war
Schlamm, waren Dinge, die sich regten, mitgeschleppte Dinge. Giuliano hatte
häufig Nachtdienst in der Kaserne, und ich war allein. Dann dachte ich aus dem
Nichts heraus, aus dem Dunkel der Fenster heraus, aus dem Schlaf des Kindes
heraus, mit solcher Intensität an Diego, dass mir schlecht wurde.
Ich zog mich ins
Schlafzimmer zurück und öffnete die Kartons. Das Licht schwach genug, um alles
ringsumher auszulöschen. Ich breitete die Fotos auf dem Bett aus, auf dem Teppich.
Ich kroch auf allen vieren auf diesem Weg aus Hochglanzpapierstücken herum,
weinte, lächelte, sabberte wie ein Hund auf dem Grab seines Herrn.
Eines Morgens fand
Giuliano ein Foto, das noch unter der Tagesdecke in der Falte des Kissens
steckte. Es war in der Nacht zerknittert. Er versuchte, es mit den Händen
halbwegs glattzustreichen. Dann gab er es mir, Hier, Liebes, das muss deins sein … Es ist
sehr schön .
Er saß auf dem Bett,
mit hängenden Schultern, sein Bauch wie ein kleiner Beutel. Ich rückte näher,
nahm seine auf dem Laken verwaiste Hand, legte sie mir aufs Gesicht und weinte
hinein. Nach einer Weile schniefte auch er, kleine, einsame Schluchzer. Mir
ging durch den Kopf, dass er viel einsamer war als ich, dass Männer einsamer
sind als Frauen, egal, wie es kommt. Zusammen weinen ist für ein Paar ein
winziges, symbolhaftes Ereignis, es ist der Atem des anderen, der in deiner
Kehle zerbirst. Es ist der Schmerz über die Welt und über dich, den du in dir
hast, du Stück Fleisch, beseeltes Würstchen, wertloser Sack. Dein Bauch tanzt
zusammen mit deinen Tränen. Steh auf, du Elender, verschwinde von hier, im
Graben des Hauses, oder reiß das Fenster auf und spring raus, doch wenn du
bleibst, sag etwas, das uns tröstet.
Giuliano sagte: »Es
tut mir leid, dass dieser Kerl tot ist, du ahnst nicht, wie leid mir das tut.«
Ich lächelte:
»Vielleicht hättest du ihn eingesperrt, er war einer von der Sorte, die alles
dafür tut, dass sie eingesperrt wird.«
Pietro kommt, auf der
Hut wie eine Maus, die sich der Falle nähert, weil sie Hunger hat und deshalb
ihren Hals riskiert.
»Sind sie das?«
»Ja.«
Er sieht sich die
Fotos an, hastig, von unten nach oben und wieder nach unten, zwei
Schwertstreiche mit den Augen, mehr nicht.
»Gefallen sie dir?«
»Das mit der Katze
gefällt mir, das ist stark … Warst du dabei, mit ihm zusammen?«
»Nein, nicht immer.«
Er setzt sich
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