Das schönste Wort der Welt
habe. Er lacht und sagt, hier könne man aber nicht erkennen, dass
sie Muslime seien.
»Sie sind alle viel
zu weiß«, sagt er.
Gojko erzählt ihm,
dass er als Kind zu Hause Weihnachten feierte wie ein guter Katholik und
anschließend mit seinen Freunden loszog, um zum Ende des Ramadan Almosen zu
sammeln.
»Für uns war das
vollkommen normal. Jetzt haben wir in der Schule drei verschiedene Sprachen,
und wenn man ein Kind anmeldet, muss man angeben, zu welcher Volksgruppe es
gehört.«
Wir bestellen eine
bosnische Suppe. Ich habe Appetit auf diesen dicken Gemüseeintopf mit
Fleischstücken. Pietro isst Pljeskavica, das, was einem Hamburger am
ähnlichsten ist.
»Wie ist es überhaupt
zu diesem Krieg gekommen?«
Gojko lacht, die
Augen wahnsinnsschwarz.
Er legt Pietro eine
Hand auf den Kopf.
»Weißt du, wen man
bräuchte, damit er dir die Antwort gibt? Einen großen Komiker, einen Verzweifelten
und Stummen, wie wir es sind, die wir nie aufgehört haben zu lachen. Buster
Keaton bräuchte man. Hast du mal Film gesehen?«
Pietro schüttelt den
Kopf, er mag keine Filme ohne Farbe.
Gojko drückt seine
Zigarette aus, sein Finger dreht sich auf ihr.
»Was willst du
werden, wenn du mal groß bist, Pietro?«
»Keine Ahnung,
vielleicht Musiker.«
Und natürlich hat er
nicht den Mut, mich anzusehen. Das ist eine alte Geschichte. Ich habe ein
Klavier gemietet für ihn und es jahrelang behalten, damit es bei uns zu Hause
vergammeln konnte. Pietro hat so gut wie nie darauf geübt, er sagte, er brauche
das nicht. Dann, vor zwei Jahren, wechselte er zur Gitarre, er macht alles
allein, geht in einen Jazzclub und nimmt dort Unterricht. Ich kümmere mich
absichtlich nicht darum. Immer wenn er den kleinsten Druck von mir spürte,
steuerte er aus Leibeskräften dagegen.
Wir sind wieder auf
der Straße, der Regen hat den Asphalt gewaschen, die Straßen glänzen wie Eisen.
Pietro läuft mit
seinem lässigen Gang vor uns her, er tritt in die Pfützen, absichtlich. Seit
unserer Ankunft meidet er mich. Er schlurft über die Rosen der Granaten, als
wären sie die Pflastersteine einer römischen Gasse, wirkt unsensibel und betont
ausgelassen, fast schon verletzend. Diese Gemeinheiten sind an mich adressiert,
weil er spürt, dass es mit dieser Reise noch etwas anderes auf sich hat, dass
da eine Absicht ist, die er nicht kennt. Ich möchte mich bei ihm unterhaken,
ihn an mich ziehen. Doch ich habe nicht den Mut, ihm nahezukommen. Falls es
etwas gibt, was Pietro verstehen muss, falls er eine Fährte wittern muss wie
ein Hund, muss er das allein tun, ich kann ihm da nicht helfen. Außerdem ist er
wie sein Vater, er ist ein kleines Radar für verloren gegangene Wellen.
»Er hat Ähnlichkeit
mit ihm, nicht?«
Gojko sieht nicht
Pietro an, er sieht mich an.
»Willst du die
Wahrheit hören?«
»Ja.«
»Er hat Ähnlichkeit
mit dir … den gleichen Gang, das gleiche Lächeln, die gleiche
Launenhaftigkeit.«
Er umarmt mich,
erdrückt mich mit seiner Masse. Er atmet in mein Haar.
»Du musst in ihn
hineingekrochen sein, Gemma. Du hattest schon immer die Gabe, in die Haut
anderer zu schlüpfen, sie zu besiegen, ohne etwas zu tun. Habe ich dir nie
gesagt, wie verliebt ich in dich war?«
»Nein, das hast du
mir nie gesagt.«
»Du warst so verliebt
in ihn, ihr wart beide so verliebt.«
Wir kommen in einen
Hof mit niedrigen osmanischen Bögen neben der Moschee. Die Fotoausstellung
befindet sich in zwei länglichen, gleichen Räumen mit Glaswänden, die von
weißen Eisenrahmen durchzogen sind, sie sehen aus wie ein langer Erker, wie ein
Gewächshaus. Ein Mädchen, zart und hochgewachsen wie ein Model, mit einem Paar
dicker, schwarzer Stutzen, die ihr um die nackten Beine schlenkern, rückt ein
letztes Mal ihre an dünnen Stahlseilen hängenden Werke zurecht. Sie kommt uns
entgegen, boxt Gojko gegen die Schulter, wühlt in seiner Jacke nach Zigaretten,
klaut ihm eine, lächelt und küsst ihn auf den Mund.
Ich frage ihn, ob das
seine Frau sei. Das Mädchen lacht, denn obwohl sie kein Italienisch kann, hat
sie das verstanden. Sie schüttelt den Kopf. Sie ist eine bekannte Künstlerin,
verrückt wie ein Pferd und tüchtig wie der Teufel.
Ich bleibe stehen, um
mir ihre Fotos anzusehen, Bilder von Männern und Frauen, die das
Gefangenenlager von Omarska überlebt haben. Momentaufnahmen von eingefallenen
Gesichtern, ausgehöhlt von Hunger, von Angst. Großaufnahmen von alten Menschen,
so nahe, dass ihr Haar oft vom Bildrand abgeschnitten ist, man
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