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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Schaufenstern, die ihr Licht löschten, und auf den
Bürgersteigen hastenden Passanten gingen wir Arm in Arm nach Hause. Ich brauchte
mich nur an seine Knochen zu schmiegen, um Frieden zu finden.
    Rom war prall gefüllt
mit Geschäften, stets vollen Restaurants, Autos in der zweiten Spur,
Chauffeuren, die vor den Drehtüren der großen Hotels im Zentrum warteten,
Luxustouristen, Politikern und Frauen mit langen Pelzmänteln in diesem milden
Klima. Wir aber gingen neben diesem allzu sehr herausgekehrten Wohlstand. Es
schien Platz für alle zu sein, aber war das wirklich so? Die Leute bewegten
sich auf dem Treibsand dieser Illusion vorwärts. Manchmal dachte ich an Gojko
und an seine kartonharte Lederjacke, Sarajevo fehlte mir, all die bescheidenen
Menschen voller Würde, der Pitageschmack, der Geruch der Kamine, in denen das
Baumharz verbrannte.
    Dann kam Gojko zu
Besuch. Ihm gefiel unsere Wohnung, ihm gefielen die zwei Flaschen, die wir
austranken. Diego trug eine dünne Krawatte aus rauer Halbwolle. Gojko lachte
darüber. Vielleicht kamen wir ihm etwas angestaubt vor, und er hatte erwartet,
dass wir ein funkelnderes Leben führten, er schaute mich an, während ich mir
eine Schürze umband, um das Geschirr abzuwaschen. Auch er wirkte erwachsener,
schweigsamer, mehr dem Sumpf des Lebens verhaftet. Er handelte nicht mehr mit
Jo-Jos und gefälschten Levi’s. Er besprach Gedichte im Radio, arbeitete regelmäßig
für eine Kulturzeitschrift und nur noch an den Wochenenden als Fremdenführer.
Er schlief in dem einzigen zusätzlichen Bett, das wir hatten und das aus einem
alten Sessel herausgezogen wurde, in einem ansonsten leeren Zimmer.
    Eines Abends nahm er
einen Zeitungsausschnitt aus der Brieftasche, den er wütend aufbewahrt hatte,
wie eine fixe Idee. Er übersetzte uns einige Passagen. Der Artikel stammte von
einem Freund, den er in Belgrad hatte, ein Dichter wie er. Tote von vor
sechshundert Jahren und Schlachten gegen die Türken wurden wieder ausgegraben,
mit einer heldischen, kriegerischen Gesinnung, die alles in allem lächerlich
war.
    Diego starrte Gojko
an. Unsere Welt war inzwischen ein weicher Bauch, nunmehr ohne Gepräge, der
sich unruhig in einer gefräßigen Gegenwart bewegte. Doch er war ein Typ aus dem
Marassi-Stadion, und womöglich erahnte er hinter diesen irrsinnigen Worten, die
von Völkern, von Zugehörigkeiten und von lebendigen Wunden faselten, den
primitiven Code, der allen Extremisten gemeinsam ist.
    »Machst du dir
Sorgen?«
    Gojko zuckte mit den
Schultern.
    »Nein … Quatsch,
faschistischer Scheißdreck.«
    Er rollte den Artikel
seines Freundes zusammen und zündete ihn an, und mit diesem kleinen Brand
steckte er sich eine Zigarette an.
    Diego freundete sich
mit einem Galeristen an, und so konnte er endlich seine Fotos von den Ultras
ausstellen. Ich sah, dass er sogar auf den Stadionrängen immer die Einsamkeit
aufgespürt hatte, eines Nackens, eines Paars roter Ohren, eines wie eine
Streitaxt geschwungenen Schals. Die Bilder aus dem Stadion gehörten zu den
schönsten, die er je gemacht hatte, schwarz-weiß, grobkörnig, Münder wie
Löcher, Augen wie Planeten, aus der Nähe betrachtete Monde.
    Die Ausstellung hatte
Erfolg, sie wanderte aus der Galerie in die Klassenzimmer eines Gymnasiums,
dann zu einem anderen. Diego konnte sogar einige Abzüge verkaufen.
    Er gab alles aus. Kam
mit einem weißen Trüffel nach Hause, den er mir auf den Teller raspelte wie ein
Kellner.
    Doch die Bilder der
auf die U-Bahn wartenden Füße wollte niemand. Diego war drei Tage dort unten
gewesen, hatte unzählige Fotos von Leuten geschossen, die auf ihren Zug
warteten, und hatte sie alle aneinandergereiht. Es war ein Feld urbanen Lebens,
ein langer Garten der Einsamkeiten. Dünne Morgenfüße bis hin zu müden,
staubigen Abendfüßen. Es war meine Idee, sie in der Wohnung aufzuhängen. Sie
füllten unseren Flur, drehten eine Runde in unserem Wohnzimmer und reichten bis
in die Küche, eine lange Reihe von Schuhen fremder Menschen, die uns
Gesellschaft leistete.
    Er hatte schreckliche
Angst, mir könnte seine Aufdringlichkeit zu viel werden, sein physisches
Bedürfnis nach mir, danach, mich wie ein Kind ständig zu berühren. Nachts
schlief er eng an meinen Rücken gepresst, ich war völlig verschwitzt, hatte
seinen Speichel in den Haaren. Ich wartete auf den Tag, da er sich ganz
natürlich auf seine Betthälfte zurückziehen würde. Doch nein, wenn er abrückte,
dann aus Versehen oder in schwülen Nächten von

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