Das schönste Wort der Welt
mir verscheucht. Sobald er es
merkte, kam er selbst im Schlaf zu mir zurück. Er legte sich quer, mit dem Kopf
auf meinen Bauch wie ein Kind im Bett seiner Eltern, selig über dieses weiche
Kopfkissen. Manchmal gab ich ihm einen Fußtritt. Drei Jahre waren vergangen.
Es brachen härtere
Zeiten an. Diego suchte nach kleinen Gelegenheitsjobs. Eine Zeitlang war er
Verkäufer in einem Elektronikgeschäft. Dann zog er los, um die Touristen an der
Spanischen Treppe zu fotografieren, er schoss Bilder an der Fontana di Trevi
und lief anschließend in einen kleinen, benachbarten Laden, um sie zu
entwickeln. Häufig warteten die Touristen gar nicht erst auf ihn, sie gingen
weg, bevor er zurückkehrte. Er kam mit den Taschen voller Fotos von fremden,
lächelnden Leuten nach Hause. Er breitete sie auf dem Küchentisch aus, um sie
mir zu zeigen, lachte und erzählte mir irgendetwas Dummes, was ihm passiert
war. Ich fragte mich, ob sich hinter dieser Munterkeit nicht allmählich etwas
Traurigkeit sammelte.
»Warum fährst du
nicht weg?«, fragte ich ihn. »Mach doch wieder eine von deinen Reisen.«
»Ich bin der
glücklichste Mensch auf Erden.«
Mein Vater versuchte
hin und wieder, mir ein bisschen Geld zuzustecken, doch ich lehnte ab,
hartnäckig. Er hatte sich eine Nikon gekauft und bat Diego um Rat, was
Objektive und Licht anging. Und Diego gewöhnte sich an, ihn ab und zu
mitzunehmen. Mein Vater assistierte ihm, wechselte die Filme und nummerierte
die benutzten. In den Pausen kam er zu uns nach Hause. Er drängte sich nie auf,
setzte sich in eine Ecke und wollte nicht einmal ein Glas Wasser. Mein Vater
half ihm, ein bisschen Ordnung zu schaffen. Er warf den Ausschuss weg, kaufte
kleine Alben und katalogisierte Diegos sämtliche Arbeiten, er sammelte die
durcheinandergewürfelten Negative und brachte sie für Probeabzüge zum
Entwickeln. Tagelang saß er mit der Lupe da, um die besten Fotos zu ermitteln.
Meinem Vater war es
auch zu verdanken, dass Diego schließlich eine Agentur fand. Er zog sich ein
schönes Tweedjackett an, nahm den Zug und stieg mit einer Fotomappe unter dem
Arm in Mailand aus. Er überredete eine Frau, die ungefähr sein Alter hatte,
ganz in Schwarz gekleidet war und ihre eisfarbenen Haare extrem kurz trug, sich
um Diego zu kümmern und dieses Talent mit irgendeinem Vertragswisch im Zaum zu
halten.
Diego schien nicht
sehr erfreut zu sein, wieder und wieder las er sich die Vertragsklauseln durch
und suchte nach einer Ausrede, um nicht unterschreiben zu müssen. Dann nahm er
den Stift und kritzelte seinen Namen darunter, weil es ein guter Vertrag war
und weil mein Vater sich wie ein Polizeikommissar mit verschränkten Armen
hingesetzt hatte.
»Unterschreib!«
Und so akzeptierte er
seine erste wirkliche, ordentlich bezahlte Arbeit. Er fotografierte eine neue
Schuhkollektion für eine Verkaufsausstellung im Stadtzentrum. Sandalen, hoch
wie Kothurne, mit silbrigen, kristallbesetzten Schnürbändern, die Diego den
strapazierten Füßen einer Ballerina aus der Schule von Pina Bausch
überstreifte. Er ließ sie mit den Sandalen an den Füßen vollkommen nackt
zwischen zerbrochenen Fensterscheiben und Unkraut in einer verlassenen Fabrik
tanzen und rollte auf der Erde neben diesem dramatischen Körper, der über ihn
hinwegflog wie ein sterbender Vogel. Der Kontrast zwischen der klapperdürren
Gestalt mit dem zurückgeworfenen Rippenbogen und dem wie eine Klaue gekrümmten
Bein und den schwülstigen Sandalen war verstörend. Die Aufnahmen waren
scheinbar ungenau, unscharf, durch das Weitwinkelobjektiv verzerrt, Flecken in
Bewegung, als hätte man einen Eimer Wasser über die Bilder geschüttet. Das
beworbene Objekt war kaum zu erkennen, man sah ein gelöstes Schnürband, eine
metallische Schuhsohle. Gleichwohl hatte der misshandelte Luxus dieser Sandalen,
in diese schmutzige Halle und in die Nacktheit dieses gepeinigten Körpers
geschleudert, etwas Grenzüberschreitendes, was dem jungen Schuhproduzenten
gefiel.
Die Fotos wurden in
einer langen Galerie des Showrooms gezeigt, eines nach dem anderen, wie die
Einzelbilder eines einzigen Sprunges. Diego erhielt einen schönen Scheck und
ich als Geschenk ein Paar dieser untragbaren Sandalen.
Er lud mich zum Essen
in ein Restaurant mit zwei Michelin-Sternen ein. Ich zog mein schwarzes Kleid
an. Er hatte sich auf dem Flohmarkt in der Via Sannio einen amerikanischen
Smoking aus den vierziger Jahren gekauft, der ihm zwei Nummern zu groß war. Die
Ärmel hatte er
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