Das schönste Wort der Welt
Nach den
ersten Aufnahmen legte er die Kamera weg und begann zu spielen. Mir war klar,
dass er als Reporter keinen Pfifferling verdienen würde, sein Auge war keines
von denen, die permanent an der Kamera kleben, krankhaft und blind. Ich sah,
wie er auf die besten Schnappschüsse verzichtete, zugunsten anderer, die den
Kindern einfach Spaß machten. Einem von ihnen hängte er die Kamera sogar um den
Hals und ließ es einen ganzen Film versauen. Wir gingen mit einer jämmerlichen,
nicht zu verkaufenden Reportage nach Hause. Wir hielten uns mit meinem Gehalt
über Wasser, ein Kind konnten wir uns nicht leisten. Ich sagte ihm nichts davon
und nahm weiter die Pille.
Jeden Tag, auch an
den miesesten, stand er voller Energie auf und bedankte sich bei mir dafür,
dass ich immer noch bei ihm war. Es war wie das Leben mit einer Katze, einer
von denen, die sich an dich geschmiegt durch die Wohnung bewegen, dich
anspringen, sobald sie Gelegenheit dazu haben, und dich mit ihrer kleinen,
rauen Zunge ablecken. Er blieb bis spätnachts in der Dunkelkammer und kam mit
roten Augen und rissigen Händen heraus. Morgens bemühte ich mich, leise zu
sein; wenn ich die Schranktüren öffnete, hielt ich den Atem an. Doch er wollte
nah bei mir sein, machte Kaffee und schrieb kleine Nachrichten, die er mir in
die Manteltaschen steckte. Es fiel mir schwer, ihn dort in der Küche am Fenster
klebend zurückzulassen. Ich nahm die Kette vom Motorroller, drehte mich um und
winkte. Mittags aß er nichts, er tat nichts ohne mich und ging ebenfalls aus
dem Haus. Er lief herum, um ein paar seiner Fotos zu verkaufen, die niemand
haben wollte. Mit seiner Umhängetasche zog er auf seinen klapperdürren Beinen
zuversichtlich durch diese Stadt, die nicht seine war, ohne sich je deprimieren
zu lassen.
Da sind so Dinge.
Kleinigkeiten, die ich nicht mehr vergessen werde, die nichts sind und doch
stärker als alles andere bleiben. Es bleiben die Treppen im Palazzo unserer
ersten Wohnung, die Marmorserpentinen mit den schwarzweißen Stufen, die
Treppenabsätze und der Handlauf, an dem ich mich beim Rennen festhielt. Ich kam
mit meiner Tasche, die mir von der Schulter fiel, nach Hause, mit meinem Schal,
der auf den Stufen schlingerte, und mit meinen Einkaufstüten. Ich wartete erst
gar nicht auf den Fahrstuhl, sondern hastete die Treppen hoch, mit weiter
Lunge. Noch im Mantel begann ich zu kochen. Ich schüttete die Tüten auf dem
Tisch aus, holte die Unterteller und die Gläser mit Stiel heraus, ich wollte,
dass jeder Abend wie ein Fest war.
Ich hatte eine Arbeit
als Redakteurin bei einem kleinen Wissenschaftsjournal gefunden, das einmal im
Monat erschien. Wir waren nur zu fünft, ich war eine Art Mädchen für alles,
übersetzte Artikel aus dem Englischen, kümmerte mich um den Umbruch, um das Archiv,
verbrachte Stunden am Telefon, um die Zahl der Jahresabonnements zu erhöhen,
sprach mit Lehrern, Schulleitern, Kulturveranstaltern und mit den Sekretären
von öffentlichen Einrichtungen und Privatfirmen. Ich hatte keinen festen
Arbeitsvertrag, die Zeitschrift stand Monat für Monat kurz vor dem Aus. Ich
rackerte mich für einen Hungerlohn und mit wenig Zukunftsperspektiven ab.
Molekularbiologie, radiale Vektorfelder, Energien aus dem Meer und die
Wellentheorie des Lichts interessierten mich nicht besonders, doch die kleine,
abgeschiedene Welt dieser unbedeutenden Zeitschrift war mir nicht unangenehm.
Mir gefiel die Redaktion im Zentrum, ein einziger Raum im Untergeschoss eines
historischen Gebäudes, wo früher Ställe gewesen waren und der Salpeter noch aus
dem Backsteinboden drang und die Kellerbögen noch die Vertiefungen von den
Pferdekruppen aufwiesen. Mir gefielen die Eisenregale mit den Aktenordnern, der
Wasserkocher in einer Ecke, das Körbchen mit den Teebeuteln, die Plaudereien im
Stehen mit den Kollegen und die heißen Tassen in der Hand.
Manchmal holte Diego
mich ab. Er klopfte an die Scheiben der knapp über dem Asphalt liegenden
Fenster. Er kam die kleine Treppe herunter und lugte mit seinem munteren,
blassen Gesicht durch die Tür, mit seinen hervorstehenden Augen und dem zu
großen Lächeln, das ihm die mageren Wangen zerriss. Es war Winter, er trug
seine Wollmütze. Von dieser dunklen Mütze umschlossen sah sein Kopf kleiner
aus.
»Wie schön du bist.«
Ich war nicht schön,
ich war normal, ich hatte die Augenringe jenes Tages, meinen kleinen,
abgestandenen Bürogeruch und die heisere Stimme nicht im Freien verbrachter
Stunden. Zwischen
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