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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Glas Wein ein. An den Gesprächen
beteiligte er sich nicht, weil er nichts dazu zu sagen hatte. Doch er war nie
abweisend. Was gingen ihn die jungen Karrieristen an, denen das Grinsen ihres
angeschmuddelten Endes bereits im Gesicht stand? Aas, das fügsam in der
Pökellake des Wohlstands aufweichen würde, fast ohne es zu bemerken, ohne
überhaupt noch irgendetwas und irgendjemand zu bemerken. Damals hielt ich sie
für meine Freunde. Später, im Laufe der Jahre, sollte ich sie für das halten,
was sie eigentlich waren: Lavierer durch Höhen und Tiefen. Einige sollte ich im
Fernsehen wiederfinden, mit schicker Brille und gestreiften Strümpfen, die
unter dem strengen, schwarzen Kleid unkonventionell wirken sollten. Ein nettes
Wort hier und eine Schmeichelei da, ein Schlückchen Weihwasser und ein
Schlückchen Sünde. Volle Taschen, Vorzeigewohnungen, lange Sofas, um alle
aufzunehmen.
    Ich schleppte Diego
zu dem mit, was mir eine anspruchsvollere Welt als meine zu sein schien, ein
Landungsplatz. Ich war die Tochter eines Werklehrers, eines Mannes, der mit
einer kleinen Säge und Sperrholzplatten in den Unterricht ging. Ich stank nach
Büchern und Anständigkeit. Ich lachte über die Witze und beteiligte mich an den
Spielen, die ich für intellektuell hielt, den Anfang eines Buches, den Gedanken
eines Philosophen erraten, Szenen aus den unbekanntesten Filmen nachspielen.
    Eines Abends sah ich
ihn am Fenster stehen, an dem, das am weitesten von dem Sofa entfernt war, auf
dem palavert wurde. Er schaute auf die Straße, es regnete.
    »Woran denkst du?«,
fragte ich.
    »An meinen Vater.«
    »An deinen Vater?«
    »Es regnet, und wenn
es regnet, denke ich an Genua, an meinen Vater, wie er in seiner Öljacke durch
den Regen läuft.«
    Ich war abgelenkt,
mit einem Ohr noch bei denen auf dem Sofa, bei dem Spiel, das weiterging. Ich
kehrte zu meinen Freunden zurück, von allen aus meiner Mannschaft gehätschelt,
weil ich die richtige Antwort wusste. Es war kinderleicht, der Anfang eines
Buches, das damals groß in Mode war. Die Wolke von Tschernobyl schwebte über
Europa, und ein Freund von mir, ein Ernährungsexperte, stellte eine Liste mit
den am stärksten kontaminierten Lebensmitteln zusammen, nicht einmal Brot konnte
man noch bedenkenlos essen.
    Diego stand immer
noch da und schaute dem Regen zu. Da fiel mir ein, dass sein Vater an einem Tag
gestorben war, an dem es in Strömen gegossen hatte, ein Container hatte sich
von einem Stahlseil gelöst.
    Ich ging zu ihm und
legte ihm eine Hand auf die Schulter. Schweigend blieb ich bei ihm stehen. Und
schweigend hörte ich das Geräusch seines Herzens … seine Kinderschritte. Er war
mit seiner Mutter herbeigelaufen, und sein Vater hatte in einer blutigen
Wasserpfütze gelegen.
    Das ist
das erste Foto, das ich im Kopf hatte, sagte er an jenem Tag vor einem Jahr in Genua zu mir. Die erste Pfütze, die Pfütze, die immerfort
bei mir ist, auf dem Grund jedes einzelnen Films .
    Wir brachen auf,
obwohl es noch regnete, obwohl es noch früh war.
    »Lass uns gehen.«
    »Wirklich?«
    »Ich bin müde.«
    Auf dem
Motorradsattel wurden wir nass. Völlig durchgeweicht kamen wir zu Hause an. Wir
liebten uns auf dem Boden, in der Lache unserer nassen Kleider. Wir liebten uns
auf diesem nie geschossenen Foto, auf diesem toten Vater, der regennass und
platt wie eine Flunder war. Er sagte Danke zu mir. Ich hob seinen Kopf an,
drängte mit meiner Zunge gegen seine Augen und leckte die Tränen ab.
    »Ich will ein Kind«,
sagte ich zu ihm, »ein Kind, wie du eins warst, wie du eins bist, ich will dir
den Vater zurückgeben, ich will dir alles zurückgeben, mein Lieber. Den ganzen
Regen …«
    Da hielt er es nicht
mehr aus, er schluchzte auf den Knien wie an jenem Tag, wie ein verzweifelter,
schmutzverschmierter Rotzjunge in einem Platzregen, der ihm den Vater getötet
hat.
    An einem äußerst
schwülen Julimorgen begleitete ich ihn zum Hilfszentrum, wo die ersten Kinder
aus Tschernobyl eingetroffen waren. Ich assistierte ihm, legte die Filme in die
Fotoapparate ein. Fasziniert sah ich ihm zu. Ich war angespannt, fühlte mich unwohl
zwischen diesen unwiderruflich entstellten Kindern, hatte Angst vor Strahlung,
in meinen Augen waren sie phosphoreszierend wie diese Puppen, die im Dunkeln
leuchten. Ich bewegte mich vorsichtig und hielt mich etwas abseits. Diego
dagegen nahm sie auf den Arm und kramte ein paar russische Wörter hervor. Er
hatte nicht die Absicht, sie auf Teufel komm raus zu fotografieren.

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