Das schönste Wort der Welt
nichts, es war zwischen den Gerinnseln verschwunden, ohne
sichtbaren Körper, nur ein armseliges Stück Schleim. Ein Tod ohne Sarg, ohne
Begräbnis. Eine Trauer, die wir nicht hätten haben sollen.
Wir nahmen das Buch
über die Schwangerschaft und suchten in dem kleinen Anhang nach dem Begriff blindes Ei . Es gab ihn nicht. Wir klappten das
Buch zu und schleuderten es in die Ecke. Diego versuchte, mich zum Lachen zu
bringen. Er kam mit einem Tuch über den Augen zurück, rieb sich an mir und betastete
mich.
»Huhu, ich bin’s,
dein blindes Ei.« Doch die Lampe warf Licht auf seine Traurigkeit.
»Das heißt, dass es
nicht unser Kind war. Kinder, die kommen müssen, kommen auch, sei unbesorgt.«
Wir sprachen nicht
mehr darüber. Ich meldete mich in einem Fitness-Center an. Hier war mein dürrer
Körper von Vorteil, eine notwendige Voraussetzung. Ich war mir nicht einmal
mehr sicher, ob ich es nochmals probieren wollte.
Eine Zeitlang waren
wir niedergedrückt, dann gewöhnten wir uns daran und fanden zu unserem normalen
Rhythmus zurück. Die düsteren Gedanken verrauchten. Die Tage in unserer Wohnung
zogen vorüber. Sie zogen über die Marmorstufen, über das zugeklappte Klavier,
über meinen Schal, der am Eingang neben seiner Biker-Jacke hing. Es war wieder
unser sanftes Leben, aus kleinen Dingen bestehend. Doch auch aus Wundern. Wie
an dem Tag, als ich ihn zufällig traf.
Ich fahre mit dem
Motorroller die Straße am Tiber entlang, halte an einer Ampel mit meinem
üblichen, im Verkehr und im Alltag angespannten Gesicht, und da sehe ich ihn.
Er geht zu Fuß und überquert die Straße mit seiner zu schweren Tasche, die ihm
die Schulter ruiniert. Ich hupe, er dreht sich um, sieht mich aber nicht und
beschleunigt seinen Schritt auf dem Zebrastreifen. Also fahre ich rechts heran
und lasse den Strom der Autos vorbei. Ich folge ihm eine Weile im Schritttempo,
in seinem Tempo. Dann rufe ich ihn.
»Diego …«
Er dreht sich um,
erkennt mich und lässt die Tasche fallen, um mich zu umarmen.
»Ich habe gerade an
dich gedacht!«, schreit er. »Ich habe an dich gedacht, und da kommst du …«
Er drückt mich an
sich, wir haben uns erst vor wenigen Stunden am Morgen getrennt, doch es ist,
als hätten wir uns seit Monaten nicht gesehen, es ist eine Überraschung, ein
Geschenk.
Wir schlendern ein
bisschen am Tiber entlang, Hand in Hand wie zwei Touristen. Die letzten Tage
sind nicht die besten gewesen, seine Fürsorge hat mir nicht genügt. Ich habe
eine Falte der Ratlosigkeit auf der Stirn, die ich nicht mehr loswerde. Meine
Arbeit befriedigt mich nicht, mein Wesen ist unverändert, ein lahmer
Kerkermeister. Ich dümple ohne Zuversicht durch die Welt, die Augen voller
Fragen. Das verlorene Kind ist weit weg von mir, hastig verdrängt, doch
vielleicht ist es ja hier, in dieser Falte.
Es tut gut, sich an
einem beliebigen Tag zufällig zu begegnen. Ich umklammere seine Hände und will
sie nicht mehr loslassen. Seine Augen entschädigen mich für alles.
»Wo wolltest du
hin?«, frage ich.
»Nirgendwohin. Ich
war auf dem Weg nach Hause, zu dir.«
»Mein Schatz.«
»Mein Schatz.«
»Du sollst nie
traurig sein.«
»Ich lebe nur für
dich.«
Ein Auto fährt
vorbei, kommt ins Schleudern, streift uns, so könnte es enden, aus Versehen, im
Bruchteil einer Sekunde.
Wir gehen zum Fluss,
zu dem dreckigen Ufer, das uns so gefällt, das uns klein und dumm erlebt hat.
Es hat uns nackt und eng umschlungen tanzen sehen, mit R.E.M. , die uns wiegten.
Wo unser Boot jetzt
wohl ist? Wo sind die kleinen, säumigen Schwalben, die immer zum Trinken
einkehrten? Hier unten spazieren wir ganz ohne Sorgen, die Stadt ist oben, über
der großen, schwarzen Backsteinmauer, hier unten gibt es nur die mächtige Rinne
des schweren, forttragenden Wassers.
In dieser Nacht
lieben wir uns. Den Sonnenuntergang am Fluss haben wir da unten gelassen,
zusammen mit dem Geruch nach Kanalisation, und nach Erinnerungen. Wir sind
wieder in die Stadt hinaufgegangen. Denn hier leben wir jetzt, in dieser
Metropole, die uns manchmal beraubt, uns entfleischt und unsere Leben auf nicht
reißfeste Fäden reduziert. Wir gehen Arm in Arm hinauf … Wir hätten uns auch da
unten lieben können. Uns in diesen Dreck werfen können oder in diesen Saustall.
Doch so viel Mut habe ich nicht, mir ist kalt, vielleicht werde ich langsam
alt.
Liebst
du mein Herz noch?
Immer.
Für immer und ewig dich.
Meinst
du nicht, dass ich mich verändert habe, zum Schlechteren?
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