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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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durchdringend an. Seine
Augen hatten eine andere Farbe, sie waren dunkler, die geweiteten Pupillen
hatten den Rest verschlungen.
    Später erzählte er
mir, er habe einen Joint geraucht. In der Wartezeit ging er ins Erdgeschoss und
setzte sich in der Kapelle des Krankenhauses im Neonlicht vor die Gestalt einer
Plastikmadonna. Nur er und eine Nonne saßen dort für kurze Zeit nebeneinander. Er
konnte sich an kein einziges Gebet erinnern, sodass ihm die Nonne mit einem Ave Maria aushalf.
    Ich kam mit offenen
Augen heraus.
    »Mein Schatz, ich
will dich nie wieder leiden sehen.«
    Monate zogen vorbei,
einer am anderen, nutzlos wie abgestellte Waggons.
    Ich kaufte mir etwas
Neues zum Anziehen. Ein Paar Stiefel, eng anliegend wie Handschuhe, und einen
stark taillierten Mantel mit einem großen Gürtel um die viel zu schmale Taille.
Mein Kopf wirkte kleiner. Ich hatte meine Haare abgeschnitten, wollte meinen
Schädel spüren. Meine Augen schauten aus diesem Haufen dunkler, schwerer Stoffe
heraus wie die eines Tiers, die Wunde versteckt im glänzenden Fell.
    Diego sah mich
beinahe ängstlich an, er hatte meine Haare sehr gemocht. Sagte, ich sei immer
noch schön, meine Gesichtszüge kämen nun mehr zur Geltung. Er fand sich neben
einer anderen Frau wieder, einer kleinen Füchsin mit knochigem Gesicht und
länglichen, reglosen, unergründlichen Augen.
    Ich wollte nicht
darüber reden.
    Mittlerweile ging es
mit Diegos Arbeit voran. Vormittags unterrichtete er in einer Privatschule für
Fotografie. Er verließ das Haus vor mir, um pünktlich um acht Uhr dreißig in
der Schule zu sein. Seine Studenten vergötterten ihn, sie tappten hinter ihm her
wie Jünger. Wenn das Licht günstig war, nahm er sie mit, um im Freien zu
fotografieren, weit weg von den Aufnahmestudios, die er nicht ausstehen konnte.
Gruppen von Motorrollern bewegten sich dann durch die Stadt, von den Parks im
Zentrum bis hin zu den Senknetzen der Fischer an der Tibermündung. Die
Studenten ahmten ihn nach, warfen sich mit ihm auf den Boden und fingen
umgekehrte, schräge Bilder ein. Die Studentinnen umschwärmten ihn, viele von
ihnen waren hübsch und von einer etwas zu betonten Exzentrizität. Manchmal nahm
ich in der Mittagspause den Motorroller und holte ihn ab, um ein Brötchen mit
ihm zu essen. Ich sah, wie er sich aufhalten ließ, wie er lächelte. Ich kam mit
meiner Fuchsschnauze heran.
    »Die ist hübsch …«
    Er nickte ohne
Überzeugung, ohne Interesse. Er war einer von denen, die nicht weiter auf
Frauen achten. Auch in dieser Bar, mit den Studentinnen, die neben uns aßen und
sich einen Joint drehten, schaute er lieber den vorbeikommenden Hunden nach.
Ihm gefielen Jagdhunde mit breiten Ohren, schmalen Schnauzen und geflecktem Kurzhaarfell.
    Ich wollte keinen
Hund und führte Ausreden ins Feld, die klassischen, dass man mit ihm rausgehen
müsse, dass wir nicht mehr ungehindert verreisen oder ohne festgelegte Zeiten
kommen und gehen könnten, wie wir es gewohnt seien. Doch im Grunde wollte ich
mich nicht von der Vorstellung besiegen lassen, dass wir zusammen allmählich
traurig wurden, dass wir ein anderes Lebewesen brauchten, das die Stille der
Wohnung durchbrach, die Stille der Gedanken, die ich mir allein machte … die er
sich allein machte. Den Gedanken an das Kind, das nicht gekommen war.
    An das Ende jenes
Jahres 1989 kann ich mich noch gut erinnern. Es geschahen drei Dinge. Die
Berliner Mauer fiel, Samuel Beckett starb, dünn wie ein Strich, und am selben
Tag starb auch Annamaria Alfani, meine Mutter. Ein Tod, so unbestimmt wie ihr
ganzes Leben. Eines Morgens bekam sie am ganzen Körper Hämatome. Sie wurde
wachsbleich, während sich auf ihren Beinen und ihrem Bauch dunkle Flecken
bildeten.
    Ihre Krankheit
dauerte nicht lange, und ich konnte praktisch nichts für sie tun. Das Einzige,
worum sie mich bat, war Stracchino, Frischkäse aus der Lombardei, darauf hatte
sie Appetit. Also verließ ich mittags die Redaktion, ging in ein teures Delikatessengeschäft
und eilte dann zu ihr. Ich fütterte sie mit einem Teelöffel und wischte ihr den
Mund ab. Ich zog mir die Schuhe aus und sah ein bisschen fern, neben ihr auf
dem Bett liegend. Es lief das Bohnenquiz, man sollte erraten, wie viel Bohnen
in einem Glasbehälter waren. Einmal sagte meine Mutter dreitausendsiebenhundertdreiundzwanzig
und hatte richtig getippt. Sie betrachtete ihr Ende mit demselben Blick, mit
dem sie zum Fernseher sah. Ohne wirkliches Interesse, mit den Gedanken woanders.
Das war

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