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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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flimmert.
    Es ist der 18.
November, ich weiß es so genau, weil es der Geburtstag meines Vaters ist. Wir
haben eine Torte gemacht, haben uns an der Tür verabschiedet, so wie er sich
neuerdings von mir verabschiedet, ganz als würden wir uns nie wiedersehen. Vielleicht
ist er ein wenig depressiv. Am nächsten Morgen besucht er uns. Er klingelt an
der Sprechanlage und sagt, dass er mit Mangos heraufkomme. Jetzt hat er eine
Vorliebe für Mangos, er schält sie und schneidet sie auf. Die Reste der Torte
sind noch auf dem Tisch, ich wische sie mit dem Finger von der silbrigen Pappe
und lecke ihn ab. Einen Finger stecke ich auch Diego in den Mund. Er drückt auf
die Fernbedienung.
    Eine Stimme sagt: Nach sechsundachtzig Tagen der Belagerung hat
sich die Stadt Vukovar den Truppen serbischer Freischärler ergeben.
    Ein schnell laufender
Mann mit einem Kind auf dem Arm ist von hinten zu sehen. Die Kamera folgt
diesem Lauf. Das Kind ist schlaff, seine Beine schlenkern wie die einer Puppe.
Womöglich ist es verletzt, und sein Vater hastet zum Krankenhaus. Man sieht ein
Stückchen vom Hintern des Mannes, und das starre ich an. Er hat keinen Gürtel
in den Hosen, vielleicht hatte er geschlafen und sich in großer Eile angezogen.
Ich starre auf dieses Detail, auf die rutschenden Hosen und auf die Hand, die
versucht, sie festzuhalten, so gut es geht.
    Als wir den Fernseher
ausschalten und weiter auf den schwarzen Bildschirm starren, der noch etwas
Licht abstrahlt, bleibt mir dieses Bild vor Augen. Ich habe das Gefühl, dass
sich die ganze Tragödie dieses Krieges darin offenbart, in diesem Mann, der versucht,
sein Kind zu retten und zugleich nicht mit nacktem Hintern dazustehen.
    Über das Kind aus Korčula sprechen wir nicht mehr. Wir sind mit
diesem Schmerz zurückgekehrt, dann ist er verschwunden. Sacht. Er hat sich
gelegt, wie ein Fisch auf einen Spiegel. Trotzdem ist Ante bei uns geblieben.
Ich glaube, wenn man ein Kind in der Welt findet, bleibt es immer da, egal, was
kommt. Manche Menschen verlieren es und finden es doch stets wieder, jeden Tag
aufs Neue, auf Fotos, im Kleiderschrank. Und so fanden auch wir ihn immer
wieder. Auf einem Bild in der Galerie für moderne Kunst. In einem Hasen, der
vor den Scheinwerfern unseres Autos sitzen bleibt und uns lange ansieht, als
hätte er uns etwas zu sagen. Und in Diegos Nacken. Dort ist er geblieben, wie
eine kaum berührte Liebe. Ich spähe zu Diego, als er zu lange auf dem Klo
sitzt, die heruntergerollten Jeans auf dem Boden, den Kopf an die Fliesen
gelehnt, als würde er schlafen.
    »Woran denkst du?«,
frage ich ihn.
    Ja, er denkt an diese
Rotznase und an den Auto-Scooter.
    Der Winter ist auf
dem Vormarsch, er zieht seine kalten Tage hinter sich her. Die Autoabgase
verpesten die Luft und legen sich auf die Wäsche, die auf den Balkons der
Häuser an der Umgehungsstraße hängt. Auf dem Weg zur Arbeit komme ich jeden Tag
daran vorbei. Dick eingemummt fahre ich mit dem Motorroller. In der Redaktion
ist es kalt, ich habe einen kleinen Heizkörper für mich allein und Klebezettel,
die mein Chef mir geschrieben hat. Am häufigsten lese ich das Wort EILT . Ich löse die gelben Zettelchen ab,
rolle sie zusammen und spiele damit herum. Wie kann denn ein Artikel über die
Magnetkraft einer neuen Kunstfaser, die unsere Hausputzmethoden revolutionieren
soll, eilig sein? Die Zeitschrift ist mittlerweile nur noch ein als
Wissenschaftsjournal getarnter Werbekatalog. Es sollte eine vorübergehende
Arbeit sein, ein paar Monate, dann nichts wie weg, doch stattdessen wurde ich
zur Chefredakteurin befördert. Ich stehe auf, um mir einen Kaffee aus der
Maschine zu holen, jeden Tag um die gleiche Zeit. Ich warte, bis er in den
braunen Becher gelaufen ist, und denke dabei, dass ich wohl nicht mehr weggehen
werde. Ich bin versiert in meiner Arbeit, ich bin schnell. Weil ich mich nicht
im Geringsten für das interessiere, was ich da tue. Es geht auch so.
Leidenschaft haut mir die Beine weg und macht mich unbeholfen. Es fällt mir
schwer, bei Dingen, die mir zu sehr am Herzen liegen, maßzuhalten. Dann werde
ich ängstlich und fange an, mich zu kratzen, als würde mein Blut unter der Haut
plötzlich zu schnell fließen und brennen. Vor ein paar Tagen fand ich die
Aufzeichnungen zu meiner Masterarbeit wieder. Und die Zeit, als ich noch
glaubte, mein Leben lang weiterzustudieren, schien mir weit zurückzuliegen. Ich
musste an Andrić denken, an die krankhafte Einsamkeit,
die ihn abweisend und paranoid

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