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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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werden ließ. In den letzten Interviews wirkte er
erbost über die Fragen und seines Werkes überdrüssig, ganz als hätte er zu viel
von sich enthüllt und es dann bereut. Ich hatte das Gefühl, etwas zu verstehen,
was ich vorher nie verstanden hatte. Wenn wir älter werden, können wir
plötzlich mit uns geizen und der Welt die kalte Schulter zeigen, weil uns
nichts wirklich entschädigt hat.
    »Wer weiß, wie es
jetzt in Sarajevo aussieht.«
    Das sagt Diego, gegen
eine Balustrade auf dem Pincio gelehnt.
    Wir treffen uns um
sieben Uhr abends, geben uns einen Kuss und schlendern Arm in Arm zu einer
Weinstube, in der wir mittlerweile fast wie zu Hause sind und die uns aufnimmt
wie ein fettiger Bauch. Wir essen ein paar Happen geröstetes Brot mit
verschiedenen Saucen und trinken einige Gläschen Rotwein. Es gibt eine Sitzbank
und ein Fenster zur Straße. Die Leute auf dem Bürgersteig haben es eilig, wir
sehen sie vorbeiziehen wie Aschegestalten.
    Wir halten uns über dem
Tisch die Hand. Lächeln dem jungen Kellner zu. Wir reden nicht mehr über die
Arbeit. Diego hat keine Lust dazu, er bringt seine Filme nicht mehr mit nach
Hause und hat jetzt einen Assistenten, der sich um alles kümmert. Selbst wenn
er Zeit hat, geht er nicht mehr mit der Kamera um den Hals los, um Jagd auf
Pfützen zu machen, er bleibt zu Hause und schläft auf dem Sofa ein. Der
Klavierdeckel ist seit Monaten geschlossen.
    Wir sind nicht direkt
traurig, wir sind wie zwei Baumstämme in der Strömung, dümpeln träge talwärts,
aber pfeifen darauf. Wir sind gleichgültiger. Besuchen fast niemanden mehr,
erfinden Ausreden. Wir sind gern allein. Nach diesem merkwürdigen Urlaub lieben
wir uns mehr denn je. Es ist eine andere Liebe. Ein Paar hat sich von einer
Brücke gestürzt. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Der Besitzer eines dieser
Wohnmobile, die belegte Brötchen verkaufen, hatte sie als Letzter gesehen. Sie
waren seelenruhig und fast fröhlich gewesen. Sie hatten Brot und Spanferkel
gegessen und ein Bier getrunken. Am Himmel waren Wolken, sie ballten sich
hinter den Bergen zusammen. Der Mann mit dem Wohnmobil sagte, am Nachmittag
werde es Regen geben, und die beiden lächelten mit einem Blick zum Himmel, zu
jenem Regen, der sie nie erreichen würde. Wir sitzen in der Weinstube,
entspannt und voneinander durchdrungen, so als hätten wir nichts mehr zu
verlieren, nichts mehr zu verlangen. Als sollten wir aufstehen und uns von
einer Brücke stürzen.
    Vielleicht ist das
die Liebe, wenn sie ihren Gipfel erreicht. Man ist berauscht wie ein
Bergsteiger, der hochgeklettert und angekommen ist, noch höher kann es nicht
gehen, weil nun der Himmel beginnt. So schauen wir aus dem Fenster auf diese künstliche
Landschaft, auf die Welt, aus der wir weggegangen sind, um mit dem Aufstieg zu
beginnen, und die uns nun weit entfernt erscheint. Wir sind oben und allein,
auf dem von uns erreichten Gipfel.
    Diegos Hand liegt auf
dem Tisch, sein Handgelenk ist weiß.
    Er hat die
Flüchtlingsscharen gesehen, menschliche Fahrbahnbegrenzungen auf ungepflasterten
Straßen, den verzweifelten Alten vor einem Stall toter Tiere, die Frau mit nur
einem Ohrring und nur einem Ohr, die vierzig blinden Kinder von Vukovar, die
den Krieg nicht sehen, ihn mit ihren Eiweißaugen jedoch spüren. Vielleicht will
er lieber dort sein, zwischen diesen Menschen, mit seiner Kamera und seinen
alten Bergschuhen.
    Wir setzen unsere
Füße auf den Asphalt und gehen nach Hause. Streifen die Hauswände. Der Wein ist
uns in die Beine gefahren und in die Hände, die vereint schlenkern. Jetzt ist
es leichter zurückzukehren, das Licht anzuschalten und diesen Haufen von Zimmern
vorzufinden, von Sachen, die uns gehören, die den ganzen Tag allein waren und
nun nach Stille stinken.
    Wir schalten den
Fernseher ein. Warten auf die Nacht, auf die ausführlichen Nachrichten. Sind
die Kinder im Bett, werden die Toten gezeigt, fahl und nutzlos, dazu Menschen,
die Abzüge drücken, Granatwerfer laden, die Arbeit anderer Menschen zerstören.
Welchen Nervenkitzel kann es bringen, in nur einem Augenblick Dinge zusammensinken
zu lassen, die über Jahrhunderte aufgebaut wurden, und die Spuren menschlichen
guten Willens zu verwischen? Das ist der Krieg. Alles auf dasselbe Nichts zu reduzieren,
ein öffentliches Klo und ein Kloster im selben Schutthaufen, ein toter Mensch
neben einer toten Katze.
    Manchmal schweigt der
Sprecher. Der Kameramann filmt. Dann hören wir die Stimme des Krieges. Sie ist
ein

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