Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
ich überrascht.
»Aye.« Er nahm mir die Hundeleine ab, so dass ich beide Hände für das Pferd frei hatte.
Ich streichelte Tammies Hals. »Er ist viel zu hübsch für einen Jungen«, sagte ich.
»Aye, aber das hört er wahrscheinlich nicht gern. Reiten Sie?«
»Nicht wirklich.«
»Was heißt das?«, erkundigte er sich.
»Dass ich auf Pferde raufkomme, wenn die das zulassen, und es sogar schaffe, im Schritttempo oben zu bleiben, aber bei allem, was schneller ist, kann ich mich nicht mehr halten.«
»Tja, das ist in der Tat ein Problem.«
»Niemand zu Hause?«
»Nein.« Er warf einen kurzen Blick in Richtung Stalltor. Es schüttete immer noch. »Aber wir können hier warten. Wir sind ja nicht in Eile.« Dann zog er mit dem Fuß einen Schemel heran, um sich zu setzen, und Angus ließ sich auf dem strohbedeckten Boden neben ihm nieder.
Fast wie in meinem Buch. Der Stall, die Stute – nun, Tammie, der aussah wie eine Stute –, ich, Graham und seine wachen grauen Augen, die mich an die von Mr. Moray erinnerten. Sogar einen Hund hatten wir. Das Leben imitierte die Kunst, dachte ich und lächelte.
»Und Sie?«, fragte ich. »Reiten Sie?«
»Aye, in meiner Jugend hab ich sogar Preise gewonnen. Es wundert mich, dass mein Dad sie Ihnen noch nicht gezeigt hat.« Seine Stimme klang fast zärtlich, wenn er von seinem Vater redete.
»Vielleicht morgen. Sie wissen, dass ich zum Mittagessen eingeladen bin?«
»Ja, er hat’s erwähnt.«
»Werden Sie auch da sein?«
»Ja.«
»Gut, denn Ihr Vater möchte unbedingt, dass wir uns über die örtliche Geschichte unterhalten.« Ohne den Blick von Tammie zu wenden, fragte ich: »Warum haben Sie ihm nicht erzählt, dass wir uns schon kennen?«
Erst nach einer ganzen Weile erwiderte er: »Und warum haben Sie es nicht getan?«
Weil … Graham mich genauso faszinierte wie Pferde. Wenn er sich in meiner Nähe aufhielt, war ich verwirrt und aufgeregt wie ein verliebter Teenager, und dieses Gefühl wollte ich fürs Erste bewahren, ohne es mit irgendjemandem zu teilen. Weil ich ihm das aber nicht gestehen konnte, antwortete ich: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hab ich mich nicht wirklich mit der Frage beschäftigt und gedacht, Sie hätten schon Ihre Gründe, warum Sie es ihm nicht verraten.«
Er wandte sich kurzerhand einem anderen Thema zu. »Nun«, fragte er, »wie geht’s voran mit dem Buch?«
»Ziemlich gut. Ich habe heute Nacht bis drei drangesessen.«
»Schreiben Sie immer nachts?«
»Nicht immer. Zum Ende hin arbeite ich praktisch rund um die Uhr. Aber am besten läuft’s spät in der Nacht, warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich da schon im Halbschlaf bin.« Das war als Scherz gemeint, doch er nickte nachdenklich.
»Möglich«, sagte er. »In der Nacht gewinnt unter Umständen das Unbewusste die Oberhand. Ein Freund von mir malt, und er behauptet auch, dass er am besten arbeiten kann, wenn seine Gedanken zu schweifen beginnen und er fast schon einschläft. Seiner Meinung nach erkennt er die Dinge dann klarer. Ich persönlich sehe keinen Unterschied zu den Bildern, die er tagsüber malt – in meinen Augen sind das alles bloß große Farbkleckse.«
»Bei mir ist das Ganze eher eine Gewohnheit. Als ich mit dem Schreiben anfing, steckte ich noch mitten im Studium, da konnte ich praktisch nur in der Nacht arbeiten.«
»Und was haben Sie studiert? Englisch?«
»Nein, ich lese liebend gern, aber ich konnte es schon in der Schule nicht leiden, wenn Bücher zu Tode analysiert wurden – Winnie Puuh als politische Allegorie und solcher Quatsch. In dem Film The Barretts of Wimpole Street gibt es eine Szene, in der Elizabeth Barrett die Bedeutung eines Gedichts von Robert Browning zu ergründen versucht und es sich von ihm erklären lassen möchte, doch er sagt, als er es schrieb, kannten lediglich Gott und Robert Browning seine Bedeutung, und inzwischen kennt nur noch Gott sie. Eine ganz ähnliche Einstellung habe ich dem Anglistikstudium gegenüber. Wer weiß schon, was der Schriftsteller dachte, und warum ist das überhaupt wichtig? Ich lese lieber zum Vergnügen und habe Politologie studiert.«
»Ach.«
»Ja, ich hatte da so meine Ideen, wie man die Welt verändern könnte«, gestand ich. »Außerdem hielt ich das Studium für sinnvoll, weil letztlich alles politisch ist.«
»Warum nicht Geschichte?«
»Nun, auch damit beschäftige ich mich lieber zum Vergnügen. Lehrer schaffen es immer irgendwie, historischen Themen den Pep zu nehmen.« Als
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