Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
Stimme.
»Prima, du bist wach. Wir wollten dich gerade abholen.«
Verblüfft über seine Nonchalance nach dem Mittagessen mit seinem Vater und Stuart, sah ich ihn an.
Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, fragte er: »Alles in Ordnung?«
Da kam Angus zurück. Ich bückte mich, hob den Ball auf und warf ihn noch einmal, um Grahams Blick auszuweichen. Sobald ich mich ein wenig beruhigt hatte, sagte ich: »Weißt du was? Lassen wir die Sache. Wenn du mich nicht mehr sehen willst, ist mir das auch recht.«
Schweigend trat er näher an mich heran.
»Wer sagt denn, dass ich dich nicht mehr sehen möchte?«
»Du.«
»Ich?« Er runzelte die Stirn. »Wann?«
»Bei deinem Vater, nach dem Essen, erinnerst du dich nicht mehr?«
»Offen gestanden: nein.«
»Du hast gesagt, Stuart sei dein Bruder.«
»Aye?«
»Nun …«
»Stuart hat am Sonntag eine typische Vorstellung geliefert und sich aufgeführt wie ein richtiges Arschloch, um dich zu beeindrucken. Ich hab’s einfach nicht übers Herz gebracht, ihm deswegen über den Mund zu fahren. Das wollte ich dir sagen.« Er hob eine Hand an mein Gesicht, so dass ich es nicht wegdrehen konnte. »Was dachtest du?«
Ich schwieg.
»Hast du geglaubt, ich verzichte Stuie zuliebe auf dich?«, fragte er ungläubig.
Als ich nickte, musste er lachen. »Oje«, sagte er, »so edelmütig bin ich auch wieder nicht.«
Dann küsste er mich so leidenschaftlich, dass ich ihm glauben musste.
Angus, der inzwischen die Hoffnung aufgegeben hatte, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, trottete schnüffelnd am Rand der Dünen entlang. Graham schlang einen Arm um meine Schultern.
»Sind wir wieder gut?«, wollte er wissen.
»Musst du das fragen?«
»Nun, ich habe den Eindruck, dass ich bei dir nichts für selbstverständlich halten darf.«
»Ja, wir sind wieder gut«, versicherte ich ihm. »Aber Stuart …«
»Lass das mal mich regeln.«
»Er vermittelt Außenstehenden den Eindruck, dass er sehr vertraut mit mir ist.«
»Aye, das hab ich auch schon gehört.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich kenne meinen Bruder, Carrie. Der ist kein Problem. Hab Geduld.« Er zog mich näher zu sich heran. »Was wolltest du hier am Strand, wenn du nicht auf mich gewartet hast?«
»Mir ein Gefühl für den Schauplatz einer Szene verschaffen, an der ich gerade arbeite«, antwortete ich.
Als ich die Dünen, das im Wind wogende Gras und die Klippen dahinter betrachtete, hatte ich das merkwürdige Gefühl, dass hier etwas fehlte, etwas, das ich beim Schreiben vor meinem geistigen Auge gesehen hatte.
Ich versuchte, mich zu erinnern. »Früher war dort drüben ein Felsen, nicht wahr? Ein großer grauer Felsen?«
Graham sah mich fragend an. »Woher weißt du das?«
Die Sache mit dem genetischen Gedächtnis erläuterte ich ihm lieber nicht. »Dr. Weir hat mir eins seiner alten Fotos geliehen …«
»Das muss aber ziemlich alt sein«, sagte Graham trocken. »Den Felsen gibt’s seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr.«
»Tja, dann war’s eben eine Zeichnung. Ich weiß nur, dass ich eine Ansicht dieses Küstenabschnitts mit einem großen Felsen dort drüben kenne.«
»Aye, der graue Felsen von Ardendraught. Er lag früher auf einem Feld droben an der Aulton-Farm«, erklärte er. »Ein riesiger Granitbrocken, so groß, dass die Seeleute sich daran orientierten.«
»Und wo ist er jetzt?«, fragte ich.
»Komm mit, ich zeig’s dir«, sagte Graham und pfiff Angus heran.
Die alte Kirche stand auf einer kleinen Lichtung, umgeben von Bäumen und Farmland. Direkte Nachbarn gab es keine, abgesehen von einem schlichten Cottage und einem Herrenhaus aus rotem Granit auf der anderen Seite der schmalen, kurvigen Straße, die so dicht an der Steinmauer des Kirchhofs vorbeiführte, dass Graham den Wagen ein Stück weit entfernt neben einer kleinen Brücke abstellen musste.
Dort kurbelte er die Fenster für Angus herunter, der sich, müde vom Tollen am Strand, ohne zu protestieren auf dem Rücksitz niederließ, während wir die Straße zurückgingen.
Es war nur das Zwitschern der Vögel zu hören, als Graham das grüne Tor zum Friedhof aufdrückte.
Die Kirche wirkte anmutig mit ihren runden, oben spitz zulaufenden Türmen, die mich an die viktorianische Fassade von Slains erinnerten. Um sie herum und dahinter erstreckten sich in ordentlichen Reihen Grabsteine, manche alt, verwittert und mit weißen Flechten bedeckt, andere schief oder an die Innenseite der Mauer gelehnt.
»Die
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