Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
dauerte eine Weile, bis sie begriff, was er meinte, und den Zug ausführte.
»Sehen Sie?«, lobte Colonel Graeme sie. »Jetzt ist Ihr König in Sicherheit. Zumindest fürs Erste.«
»Aye«, mischte Ogilvie sich ein und lehnte sich in seinen Sessel zurück, »oft liegt es in der Hand der Königin, den König zu retten. Unser junger King James verdankt seiner Mutter viel. Er wäre nicht mehr am Leben, hätte sie nicht den Mut besessen, ihn übers Meer mitzunehmen.«
»Sie sollten dem Mädel alles darüber erzählen«, ermutigte Colonel Graeme ihn. »Zu der Zeit war sie noch ein kleines Kind.«
»Der junge König – damals noch der Prince of Wales – war gerade mal sechs Monate alt in den ersten Dezembertagen, und es herrschte windig-kaltes Wetter. Der alte König steckte in großen Schwierigkeiten, weil die meisten seiner Generäle, unter ihnen auch Marlborough, ihn im Stich gelassen hatten und zu William of Orange übergelaufen waren. Sogar seine eigene Tochter Anne hatte sich in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Staub gemacht. Das verletzte ihn so sehr, dass er sich praktisch aufgab. Wichtig waren ihm eigentlich nur noch die Königin und der kleine Prince of Wales, von dem man munkelte, er sei nicht deren leiblicher Sohn. Wie die Königin eine so unverschämte Lüge hinnehmen konnte, begreife ich nicht. Schließlich hatte sie in einem Raum voller Zeugen gebären müssen wie alle Königinnen …«
Nur mit Mühe unterdrückte Sophia den Impuls, die Hand auf ihren Bauch zu legen.
»Der alte König beschloss, die Königin und den Prince of Wales nach Frankreich zu schicken. Nur sehr wenige wurden in den Plan eingeweiht. Beim Abendessen merkte niemand der Königin etwas an. Danach zog sie sich zurück, schlüpfte aus ihrem feinen Kleid und in ein einfaches Gewand und nahm den Prinzen auf den Arm wie ein Wäschebündel. Begleitet von zwei vertrauenswürdigen Männern und ihren Dienerinnen, schlich sie sich von Whitehall hinunter zum Fluss.«
Sophia biss sich gespannt auf die Lippe.
»Es war so dunkel«, erzählte Captain Ogilvie, »dass sie einander fast nicht sehen konnten. Und die Überquerung der Themse gestaltete sich wegen eines Sturms ziemlich gefährlich. Als sie die andere Seite erreichten, suchte die Königin an einer Kirchenmauer Schutz, bis einer ihrer Bediensteten die Kutsche heranholte, die sie dort erwartete. Fast wären sie entdeckt worden, und auf der Straße nach Gravesend hätte man sie beinahe aufgehalten. Am Ende erreichten sie sicher die Küste, wo sich ihnen weitere Gefolgsleute anschlossen. Obwohl die Überfahrt sehr unruhig war, beklagte sich die Königin nicht. Nur ihrem Mut ist es zu verdanken, dass wir heute einen König haben, denn wären sie in England geblieben, hätte nichts sie retten können.«
»Ja, es ist eine anrührende Geschichte«, pflichtete Colonel Graeme ihm bei.
»Der Comte de Lauzon, der selbst dabei war und alles mit eigenen Augen sah, hat sie mir eines Abends bei ein paar Flaschen Wein erzählt. Von ihm weiß ich noch andere Geschichten, aber die eignen sich nicht für die Ohren einer jungen Frau«, fügte er schmunzelnd hinzu.
Seine Schilderung der Flucht beschäftigte Sophia noch Stunden später, als sie durch das große Erkerfenster im Salon hinaus aufs Meer schaute. Wie es wohl war, auf rauer See ins Ungewisse zu segeln, den kleinen Sohn im Arm und Sorge um den Gatten im Herzen, der in der Heimat zurückblieb und den sie vielleicht nie wiedersehen würde?
Sophia war so sehr in Gedanken versunken, dass sie Colonel Graeme neben sich erst bemerkte, als dieser mit ruhiger Stimme sagte: »Es würde mich nicht wundern, wenn es heute noch Schnee gäbe. Die Wolken sehen ganz danach aus.«
»Mein Vater liebte das Meer«, verriet sie ihm erst nach einer Weile.
»Anders als Sie«, bemerkte er.
»Ich traue ihm nicht. Im Sommer bietet es einen schönen Anblick, aber im Winter zeigt es ein anderes Gesicht.«
»Aye«, pflichtete er ihr bei, »es gibt kaum etwas Traurigeres als das winterliche Meer, denn es erinnert uns daran, dass wir uns am Ende des Jahres befinden, dass seine Tage nicht mehr wiederkehren. Die Felder sind ein paar Monate mit Schnee bedeckt, die Vögel hören eine Weile zu singen auf, und das Meer zeigt sein stürmisches Wintergesicht, das Ihnen nicht gefällt. Das ist der Lauf der Dinge. Aber wenn Sie erst so alt sind wie ich, freuen Sie sich vielleicht sogar auf den Winter.«
»Wirklich?«
»Aye. Denn wenn es keinen Winter gäbe, dürften wir uns
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