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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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Kino betraf. In den Vorstand der Taxeninnung, berichtete er, würden Nazis geschleust, bevorzugt solche mit niedrigen Parteinummern. »Jetzt winkt ihnen der Lohn!« Bestimmten Taxenbesitzern wurde nahegelegt, ihren Betrieb zu verkleinern. Ede sollte von drei Lizenzen zwei zurückgeben. »Ich muß die Wagen verkaufen«, sagte er. »Und wer ersetzt mir den Einnahmenausfall? Jetzt, wo das Kind da ist, brauchen wir jeden Pfennig.« Im übrigen, er habe herumgehorcht, würde das nur Taxenbesitzer treffen, die nicht in der Partei seien.
    Mein Vater sagte, aber es war ihm anzusehen, daß er es nicht ernst meinte: »Dann tritt doch in die Partei ein.«
    »Das ist nichts für mich«, sagte Ede. »Aber wie soll es weitergehen?«
    Niemand wußte darauf eine Antwort.
    In einer alten Zeitung, die als Folge von Lydias mangelndem Ordnungssinn noch im Zeitungshalter steckte, las ich den Text der nach dem Reichstagsbrand auf Wunsch Hitlers von Hindenburg erlassenen Notverordnung. Zum Schutz von Volk und Staat und zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte würden die Grundrechte außer Kraft gesetzt. Es seien daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der hierfür bestimmten Grenzen zulässig.
    Ein paar Seiten weiter stand, daß Dr. Lippert, Staatskommissar für Berlin, die Entlassung sämtlicher an den städtischen Krankenhäusern arbeitenden jüdischen Ärzte befohlen habe.
    Sternchen, vielleicht war es für dich höchste Eisenbahn! – So jedenfalls Tante Delis Worte: »Ich glaube, für Sternchen Siegel war’s höchste Eisenbahn.« Alle Berliner mochten diesen Ausdruck, Leute verabschiedeten sich, indem sie sagten: »Ich mußgehen. Höchste Eisenbahn.« Tempo, Tempo, wenn man etwas vollbringen wollte in Groß-Berlin.
    Nun ging manches zu schnell. Tante Deli fuhr fort: »Ich verstehe nicht, wieso niemand von uns auf die Idee gekommen ist, Sternchen ein Abschiedsfest zu geben. Wir lassen ihn laufen und wissen nicht einmal, wohin er läuft oder fährt. In die Schweiz, gut. Winterthur. Wer kennt das ? Niemand. Wieso ist niemand mit ihm gefahren? Wieso hat niemand ihn zum Bahnhof begleitet? Lydia, sieh nach, ob die Kartoffeln gar sind! Beim Frisör war ich ein halbes Jahr nicht mehr. Immer die Brennschere. Kein Wunder, daß meine Haare aussehen wie Trockengemüse.«
    Sie betrachtete sich im spiegelnden Metall des Zapfhahnaufbaus, drehte den Kopf hin und her. »Wir sind bereits wie diese neue Generation. Hannemann pflastert seine Mütze auf den Tisch. Eine dreckige, durchgeschwitzte Mütze. Sternchen, der viele Jahre unser treuer Famul…, wie sagt man?«
    »Famulus.«
    »Der unser Famulus gewesen ist, verschwindet. Nicht seine Schuld. Es gibt gute Juden und schlechte, wie es gute Christen und schlechte gibt.«
    »Du gehörst zu beiden nicht«, grummelte mein Vater.
    »Ich sage nur. Hat jemand die Büchsen mit Blutwurst in den Keller getragen? An alles muß man selber denken. Wer hätte gedacht, daß wir einmal Blutwurst in Konserven … Meine Mutter hat alles in Gläser eingeweckt. Ich komme zu nichts. Deshalb haben wir Sternchen nicht sein Abschiedsfest gemacht. Weil ich nicht daran gedacht habe. Wer hilft uns jetzt? Wer hilft in euerm Kintopp? Wer holt die Filmrollen und bringt sie wieder weg?«
    »Alles ist organisiert«, sagte Joachim.
    »Denkst du.« Tante Deli wischte sich mit dem Schürzenzipfel übers Gesicht. »Wer hat das alles besorgt? Sternchen. Denkst du, deine Schickse wird dir helfen? Flamme empor! Wenn ich das höre.«
    »Laß Isabella aus dem Spiel«, sagte Joachim.
    »Schönes Spiel mir das, oder? Vielleicht sollte man dir den Arsch mit Ohren überreichen.« Sie machte eine Bewegung zum Regal hinüber, wo die Plastik, etwas verstaubt, auf einem Stickdeckchen stand, redete dann jedoch weiter: »Ich will nichts gesagt haben. Vielleicht ist sie gar nicht so. Verführt. Die Nazis verführen die Jugend. Ihr seid die Zukunft Deutschlands. Hat sich was, oder? Kanonenfutter wie vierzehn-achtzehn. Douaumont und Verdun. Damit sie später was zu reden haben am Stammtisch. Jene, die zurückkommen. Ich fühle mich miserabel. Wir sitzen hier, Sternchen schicken wir in die Fremde und nicht einmal ein Fest. Lydia! Laß den

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