Das Schützenhaus
Nicht sehr feierlich. Doch war das nicht wichtig. Zu den Prinzipien, die mein Vater eingeführt hatte, als er das Schützenhaus übernahm, gehörte, daß an Feiertagen geöffnet war. So fand unser sogenanntes Familienweihnachten im Kreis einiger Gäste statt, die in der Gaststube strandeten und sich langsam vollaufen ließen. Pommrehnke spendierte ihnen freie Mahlzeiten, Werner, der wie jedes Jahr mit uns feierte, spielte Wehmütiges auf dem Schifferklavier. Schließlich schwankten sie davon.
In der Nacht schneite es. Am Morgen fiel weißes Licht durch die Fenster. Anneli war nirgends zu finden.
Eine Stunde später fuhr sie mit einem Pferdeschlitten vor, sie hatte Berenice eingespannt. Uns war neu, daß Berenice auch in der Deichsel ging. Anneli lud uns zu einer Schüttenpartie ein. Außer mir zeigte niemand Lust. Anneli sah aus, als wirke sie in einem in Rußland spielenden Film mit. Pelzmütze, Muff, eine dreiviertellange Jacke aus einem Fell, das ich nicht kannte. Ich warf mir einen Schafspelz über, den unser Vater im Ersten Weltkrieg aus Mazedonien mitgebracht hatte. Ein paar Motten flatterten auf.
Wir fuhren auf verschneiten Wegen in den Wald. Es war kalt. Auf Umwegen gelangten wir, nach mehreren Stunden, an jenes Forsthaus, in dem sich Walter Pommrehnkes Idylle mit Gila-Monster abgespielt hatte. Anneli hielt an. Berenice dampfte.
»Das Pferd braucht eine Pause«, sagte Anneli.
Ich deutete auf das Forsthaus: »Hier?«
»Warum nicht?« Anneli blickte mir in die Augen. »Ich möchte wissen, wie die Zimmer sind. Und ich möchte sie ausprobieren. Mit dir.«
»Vielleicht ist geschlossen«, murmelte ich. Aber da kam ein Groom und spannte das Pferd aus, um es in den Stall zu führen. Anneli sprang aus dem Schlitten und lief die Stufen zur Tür des Forsthauses hinauf. Ich folgte ihr.
Im Januar darauf kam Hitler an die Macht. Mein Vater kaufte einen neuen Radioapparat mit magischem Auge. Der Batterieapparat sah allerdings schäbig aus. Lydia staunte: »Herr Pommrehnke, daß Sie sich dazu entschlossen haben. Jetzt werden wir die Hitlerreden viel besser empfangen können.«
Mein Vater knurrte und drehte an den Knöpfen. »Deine historischen Bedürfnisse kannst du auf deinem Zimmer absolvieren, Lydia. Weißt du was? Ich schenk’ dir den alten Apparat.«
Lydia knickste. Sie klemmte sich den Lautsprecher unter den Arm und verschwand nach oben.
Die neue Zeit zog gemächlich ins Schützenhaus ein. Erste Zeichen: Radke trug jetzt offen seinen Parteibonbon am Revers. Isabella sammelte für den Verein der Auslandsdeutschen. Sie verkaufte uns blaue Kerzen. Tante Deli garnierte die Kerzen mit Schleifen, Sie nahm dazu Bänder, die sie von Weihnachtspaketen abgewickelt hatte, die Oma und Opa uns schickten. Die Kerzen wurden auf die Gastzimmertische gestellt. Hin und wieder zündete ein Gast eine an oder schlug Robinson Krause vor, er möge sie anstecken.
Hannemann erschien manchmal, nicht zu oft, in Uniform. Stets legte er seine Mütze vor sich auf den Tisch. Jetzt blieb sie da liegen. Niemand stellte Hannemann den Arsch mit Ohren mehr hin.
Es ging schon auf Ostern zu, als Joachim mit einem »Film-Kurier« in der Hand erschien. »Sie fangen an«, sagte er.
Es ging um den Reichsverband der Lichtspieltheater:
Die Umwandlung des Reichsverbandes nach dem Willen der Mehrheit der im Reichsverband vertretenen Verbände hat sich in den gestrigen Abendstunden vollzogen. Was in der letzten Delegiertensitzung vom 9. Februar noch nicht erreicht werden konnte, ist gestern der Leitung der Notgemeinschaft in legaler, fairer Form und, wie betont werden muß, nach eingehender Agitation und in völliger Übereinstimmung mit allen maßgebenden Unterverbandskreisen geglückt; Adolf Engl übernahm die kommissarische Leitung des Reichsverbandes, nachdem der alte Vorstand, in letzter Stunde die Zeichen der Zeit richtig deutend, geschlossen zurücktrat und in würdiger Form die Geschäfte an Engl übergab.
»Und?« fragte mein Vater. »Ein alltäglicher Vorgang. Ein neuer Verbandsleiter. Was ist dabei?«
Joachim knallte die Zeitschrift auf den Tisch. »Ja, merkst du nichts?« rief er. »Merkt ihr alle nichts? Jetzt sitzen Nationalsozialisten in der Verbandsspitze.«
»Davon steht nichts in dem Artikel.« Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Es ist aber so«, sagte Joachim. »Sie werden uns in alles undjedes hineinreden. Die bisherige Filmzensur wird uns wie das Zuckerschlecken vorkommen. Sie werden alles in einen Topf werfen. Die
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