Das Schützenhaus
Vielleicht ein ganz kleines. Wie ich sehe, betreibt eine offene Handelsgesellschaft das Lichtspieltheater.«
»Mein Sohn und ich«, sagte mein Vater und deutete auf Joachim, der mit versteinertem Gesicht dastand, an den Tresen gelehnt.
Herr Timm meinte: »Nicht ganz.« Er blätterte in einem Aktenordner. »Handelsgerichtlich ist ein dritter Partner eingetragen. Ein gewisser Herr Siegel.«
»Der ist weg«, sagte mein Vater.
»Weg? Wie das?« Herr Timm, mit wäßrigen blauen Augen, warf einen ungläubigen Blick auf uns. »Herr Siegel kann nicht einfach weg sein. Was heißt weg? Aufgelöst?«
»Soweit uns bekannt ist, hat Herr Siegel eine Stelle im Ausland angetreten«, nuschelte Joachim.
»Im Ausland? Höre ich recht?«
»Im Ausland.«
»Herr Siegel ist aber Ihr Teilhaber.«
Mein Vater und Joachim sahen einander an. Niemand hatte daran gedacht, Sternchens Inhaberanteil zu löschen. Im Gegenteil, wir waren entschlossen, diesen Anteil für ihn bis zu seiner Rückkehr zu verwalten.
»Was ist dagegen zu sagen?« fragte Joachim.
Herr Timm schüttelte den Kopf. Es sah schwerfällig aus, wegen seines Nackens. »Dumme Geschichte«, sagte er. »Sie wissen vielleicht nicht, daß Herr Siegel rassisch nicht einwandfrei ist?«
»Ich kenne keine Bestimmung, die dagegen spricht, daß Herr Siegel unser Geschäftspartner ist«, sagte mein Vater.
»Sie irren«, sagte Herr Timm. Er sagte das schlicht, ohne besondere Betonung. »Sie irren insofern, als laut neuester Verordnung die Mitgliedschaft für einen rassisch nicht einwandfreien Geschäftspartner im Reichsverband der Lichtspieltheaterbesitzer unerwünscht ist.«
Herr Timm stand auf. »Sie ist nicht nur unerwünscht, sie ist unmöglich. Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben. Sie werden die Folgen tragen müssen. Heil Hitler!«
Bescheide, Aufforderungen und Vorlagen. Alle trugen den Reichsadler mit dem Hakenkreuz. Wir erhielten die Mitteilung, daß Sternchens Anteil an die Verwaltung nichtarischen Vermögens übergegangen sei. Herr Timm blieb weg. Dafür besuchten uns andere Herren, die Gesichter wechselten. Sic sahen Bilanzen ein, besichtigten das Kino. Bewerteten Sternchens Anteil, schickten einen Bescheid.
Schließlich beehrte uns Herr Timm wieder. »Meine Herren«, sagte er, »Ihre Angelegenheit steht nicht ungünstig, aber auch nicht günstig. Sie könnten Ihren guten Willen bekunden, wenn Sie in die Partei einträten. Oder in irgendeine nationalsozialistische Organisation.«
Mein Vater und Joachim sahen Herrn Timm schweigend an.
»Sie, Herr Pommrehnke«, sagte Herr Timm zu meinem Vater, »waren Kavallerist. Sie könnten in die Reiter-SA eintreten.Eine interessante Organisation. Sie wären unter Kameraden. Könnten Jugend ausbilden.« Er stand auf. »Denken Sie nach«, setzte er hinzu und ging.
Mein Vater stand hinter dem Tresen und zerriß Bierdeckel. Robinson Krause ging zur Tür, die der Sachwalter offengelassen hatte, und schloß sie.
Ich erinnere mich an jene Wochen, Monate. Wenn ich von Flug-Wuttke nach Hause kam, sah ich Tante Deli, meinen Vater und Joachim um den runden Tisch im ersten Stock sitzen, unter dem Geweih-Kronleuchter. Sie hatten sich hierher ins Eßzimmer zurückgezogen, weil sie, wie mein Vater sagte, keinen Wert darauf legten, daß die Gäste an ihren Sorgen teilnahmen, auf diese oder jene Weise. Robinson hielt die Gastwirtschaft in Gang. Manchmal half Isabella.
»Aus der wird niemand schlau«, sagte Tante Deli. »Ist sie eine Nazisse oder nicht?«
»Eher nicht«, meinte Joachim. »Sie weiß es nicht besser. Sie trägt eben diese Uniform. Viele Mädchen sind jetzt im BDM.«
»Anneli ist auch nicht im BDM. Niemand fordert sie dazu auf«, sagte Deli.
»Anneli ist über zwanzig. Isabella ist achtzehn. Wenn die Mädchen über zwanzig sind, werden sie, glaube ich, nicht mehr aufgefordert.« Er grinste: »Vielleicht tritt Anneli in die Frauenschaft ein.«
Ich trat ihm gegen das Schienbein.
Hubert meinte, ob Hannemann nicht helfen könne, schließlich sei er in der SA.
Mein Vater schrie wütend: »Der soll erst lernen, daß er seine Stinkmütze nicht auf unseren Tisch schmeißt.«
»Ich meine nur«, sagte Hubert.
Anneli blieb nachts zuweilen fort. Niemand stellte sie zur Rede. Wenn sie kam, verschwitzt und nach Pferd stinkend, schien mir, als leuchte ein Licht. Abende, an denen sie ausblieb, waren für mich verloren. Wilfried hatte den Plattenspieler repariert, eine neue Feder eingesetzt. Ich schleppte ihn aus Annelis Zimmer
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