Das Schützenhaus
wie alle deiner Generation. Der Vogel Strauß steckt nur den Kopf in den Sand. Ihr aber kriecht so weit in die Düne, daß bloß euer Arsch rauskuckt. Und in diesen Arsch bekommt ihr dann einen Stiefeltritt. Von einem feinen, glänzenden, braunen SA-Stiefel.«
»Moment mal …«, sagte mein Vater.
»Nichts da«, unterbrach ihn Anneli. »Einer muß schließlich offen mit dir reden, wenn’s die Jungs schon nicht tun. Die Jungs haben sich die Mäuler verbrannt beim Absingen heißer Lieder. ›Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not …‹«
»Moment mal«, rief nun auch Joachim.
»Schnauze«, sagte Anneli. »Gut, vielleicht habt ihr nicht mitgesungen. Warum seid ihr nicht in der Hitlerjugend? Weil ihr zu alt seid. Warum nimmt der Arbeitsdienst euch nicht? Weil eure Jahrgänge nicht aufgefordert sind. Sie werden ein neues Heer aufstellen, und sie werden euch nicht nehmen. Ihr seid nicht gefragt.«
»Augenblick«, rief ich.
»Schnauze«, sagte Anneli. »Ich will gerecht sein. Ihr könntet in der SA sein, ihr seid es nicht. Euer Vater könnte in der Partei sein, er ist es nicht. Ihr seid aber nicht drin, weil ihr den Rummel nicht begreift, und nicht, weil ihr dagegen seid. Das ist der Unterschied.«
»Bist du fertig?« fragte mein Vater.
Tante Deli rief mit rotem Kopf von der Küchentür her: »Nimm dich zusammen, oder ich fenstere dir eine, daß du denkst, Ostern und Pfingsten fallen zusammen.«
»Zu spät«, sagte Anneli.
Sie ging auf unseren Vater zu, umarmte ihn. »Ist nicht wichtig«, sagte sie. »Oder – vielleicht ist es wichtig. Aber ich sehenicht, wie die Chose laufen wird.« Sie drehte sich zu uns um: »Inzwischen wird weitergeritten.«
Tante Deli drohte mit der Faust und verschwand wieder in der Küche.
Wir weideten uns an unserem neuen Einvernehmen, als Hannemann eintrat.
»Wieso habt ihr nich jeflaggt?« fragte er.
»Geflaggt?« Mein Vater setzte sein erstauntestes Gesicht auf. »Besteht Anlaß?«
Hannemann warf seine Mütze auf – nein, nicht auf den Tisch, auf einen Stuhl. »Es steht in der Zeitung, es kommt im Rundfunk. Flaggen raus! An jedem nationalen Feiertag wird geflaggt. Heute ist Heldengedenktag.«
»Oh«, meinte mein Vater, »das haben wir übersehen. Es ist ja erst Vormittag. Lydia wird die Fahne suchen. Hängt sie aus dem ersten Stock.«
Hannemann verstand die Ironie nicht, die in dem Wort »sucht« lag. Die Fahne war, in seinen Augen, mehr als der Tod, wie das Lied sagte. Daß man sie erst suchen müsse, kam ihm nicht in den Sinn. Hannemann beschäftigte sich mit Lydia und der Fahne im ersten Stock, über unseren Köpfen, vielleicht ein bißchen länger als nötig. Dann schritt er an uns vorbei aus der Tür. Lydia trug ihm seine Mütze hinterher.
Wir gingen hinaus und betrachteten die Fahne. Sie hing über das Wirtshausschild und verdeckte einige Buchstaben.
Übrig blieb:
SCH…HAUS
»Das kann manches heißen«, sagte mein Vater.
Anneli gab mir Reitunterricht. Einmal, als wir die Forstwege hinter dem Schützenhaus entlanggaloppierten, ragte ein Ast über den Weg. Anneli ritt vor mir. Sie wendete sich nach mir um, weil sie sehen wollte, wo ich blieb. Immer ritt ich ein Stück hinter ihr, von der kavalleristischen Begabung der Familie war bei mir wenig zu spüren, ich hielt mich im Sattel, mehr nicht.
Anneli übersah den Ast. Ich sah ihn. »Achtung!« rief ich, jedochden Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Ast streifte Anneli vom Pferd. Das Pferd lief weiter. Anneli lag auf dem Weg, zwischen den Räderfurchen, ihre Mütze war in die eine Furche gerollt. Ich zügelte meinen Gaul und sprang ab. Beugte mich über sie, wollte ihr aufhelfen. »Alles in Ordnung?« fragte ich. Anneli preßte die Antwort zwischen den Zähnen hervor. »Nein. Ich kann den Kopf nicht bewegen. Laß mich liegen. Hol jemanden …« Sie war blaß. Tränen traten in ihre Augenwinkel, liefen herab, eine über die Wange, eine die Nase entlang. »Anneli«, sagte ich. Sie plinkerte mit einem Auge. Flüsterte: »Nicht schlimm.«
Ich zog meine Jacke aus und schob sie unter ihren Kopf. Nahm die Mütze auf, legte sie neben Anneli. Ihr Pferd kam auf dem Weg zurückgetrottet. Meins war stehen geblieben, wo ich abgestiegen war. Es riß Blatter von den Sträuchern. Eben wollte ich es zurückzerren und aufsteigen, als ich das Geräusch eines heranrollenden Fuhrwerks hörte. Es war Eichelkraut mit seinem Plattenwagen.
»Wat löpt doa?« fragte er.
»Nichts löpt«, sagte ich. »Ein Ast. Anneli geriet
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