Das Schützenhaus
gefallen. Nicht gefallen, gewischt worden. Hättest du dich nicht nach mir umdrehen müssen, wäre das nicht passiert.«
»Irgendwann hätte es mich auf jeden Fall erwischt«, sagteAnneli. »Ich möchte, daß du Spaß am Reiten bekommst. Was ist mit den Pferden?«
Ich berichtete, daß mein Vater und ich die Pferde am Abend aufs Gut zurückgebracht hatten.
»Wer bewegt Berenice?« wollte Anneli wissen.
»Einer von den Reitlehrern. Ein junger mit Bürstenschnurrbart. Er heißt Wolfgang, glaube ich.« Und setzte hinzu: »Übrigens bin ich sicher, er ist verliebt in dich.«
Anneli machte ein steinernes Gesicht. »Kann sein, kann nicht sein«, meinte sie. »Was heißt verliebt. Verliebtsein, das kommt und geht. Wie gutes Wetter und schlechtes. Die Jungs wissen nicht, was sie wollen. Übrigens habe ich den Eindruck, daß kaum ein Mann weiß, was er will.«
Ich errötete. Lenkte ab: »Deine Mutter und mein Vater. Sieh dir die an. Die haben gewußt, was sie wollen.«
»Meinst du?« fragte Anneli.
Die Schwester kam mit dem Tee. »Dr. Hahn sagt, morgen können Sie aufstehen«, meldete sie.
Dann war Anneli wieder im Schützenhaus. Ede Kaiser und ich hatten sie abgeholt. Nun gehörte auch Anneli zu jenen, die den Ladestock verschluckt hatten. Sic saß sehr aufrecht und schien größer geworden zu sein. Um den Hals trug sie eine weiße Polstermanschette, die ein Lederkoller umschloß, mit Schnallen an der Seite. »Du siehst künstlich aus«, sagte Joachim, »ich merke, was Fritz Lang in seinem Metropolis-Film vergessen hat. Er hätte tausend Statisten mit solchen Lederkragen auftreten lassen müssen, wie sie sich auf die Maschinenburg zubewegen …«
»Reserve hat Ruh’«, rief mein Vater. »Weißt du nichts anderes als deinen Filmkram?«
»Bringt mich nicht zum Lachen«, sagte Anneli. »Lachen tut weh.«
Später gingen wir den Waldweg entlang, besuchten die Unfallstelle. »Ein vertrackter Ast«, sagte Anneli. »Wir werden den Förster bitten, ihn abzusägen. Dann hänge ich ihn zu Hause an die Wand. Zur Erinnerung.«
Erinnerung. Ich sah sie wieder daliegen, zwischen den Wagenfurchen.Sah, wie die Tränen herunterliefen, eine an der Wange, eine die Nase entlang.
»Anneli«, sagte ich. »Anneli. Ich liebe dich.«
Sie drehte sich zu mir um, strich mit beiden Händen ihre Haare nach oben, so daß ihre Ohren hervortraten.
»Laß das«, brummte sie. »Kerle verstehen nichts davon.«
Als wir ins Schützenhaus zurückkehrten, saß Kitty in der Gaststube. »Wo ist Lehmann?« fragte ich.
Kitty drückte ihre Zigarette in der Aschenschale aus. »Lehmann kommt nicht mehr«, sagte sie. »Es hat sich herausgestellt, daß er rassisch unerwünscht ist.«
Dann legte Kitty ihren Kopf auf den Tisch, und wir hörten sie schluchzen. Ihre Schultern zuckten. Anneli legte ihre Hand auf Kittys Nacken. Sie tat es sanft.
Vor dem grünen Waggon auf der Wiese standen im Halbkreis Mädels der Singschar. »Unterm Dach juchhe, unterm Dach juchhe, hat der Sperling seine Jungen«, sangen sie. Isabella dirigierte. Dr. Eckener verkroch sich unter den Eisenbahnwagen. Ein sanfter Wind rauschte in den Baumwipfeln, kehrte die Unterseite der Blätter nach oben, doch das Lied der Mädchen übertönte mühelos das Rauschen. »Wenn der Frühling kommt, wenn der Frühling kommt, fang’n sie alle an zu summen.« Dann lehnten sie sich alle nach einer Seite, fielen in den Refrain: »Sum, sum, sum, di-ack-di, di-acka-do-ho …«
Die Norne stand wie eine Säule, in Habtachtstellung, Beine und Füße zusammen, und dirigierte mit den Händen. Die Mädchen boten bei den hohen Tönen ihre Gurgeln dem Licht dar.
Großvater war mit Laura und Tante Frieda, ihrer Mutter, eingetroffen. Auch Onkel Rudolph war mitgekommen. Ich stand mit ihm beim Kinoeingang. Wir hörten zu, wie die Mädchen sangen. Oder vielmehr: Wir sahen zu. Wie die Kehlchen sich reckten. Wie Isabella vor der Front der Mädchen stand. Wiederum fiel mir der Vergleich mit dem Rohling in einer Werkstatt ein. Sie war nicht zu Ende bearbeitet.
»Erstaunlich«, sagte Onkel Rudolph. »Wie nennt ihr sie? Die Norne? Das paßt. Das paßt. Joachim liebt sie?«
»Das kann man nicht einwandfrei beantworten«, sagte ich. »Sie ist um ihn, und meistens duldet er es. Manchmal wirft er sie hinaus, aber das ist nicht von Dauer. Meistens trägt sie Zöpfe, wie jetzt, manchmal löst sie ihr Haar auf.«
»Sie löst ihr Haar auf?«
»Warum nicht?«
»Ich dachte, ihre Zöpfe sind … nun, sagen wir, sie sind nicht,
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