Das Schützenhaus
an den Ast, weil sie sich nach mir umsah, und der Ast…«
Eichelkraut kletterte vom Bock. »Mäken, Mäken«, murmelte er. »Tut’s weh?«
Anneli wollte den Kopf schütteln, aber es ging nicht. »Ich glaube … ein Wirbel …«, preßte sie hervor.
Zufällig war Reichsunfallwoche. Die Zeitungen hatten seit Tagen Artikel über Erste Hilfe gebracht, die Berufsgenossenschaften Plakate verteilt: »Zehn Punkte für Erste Hilfe«. »Wir müssen Anneli flach transportieren«, gab ich meine neue Weisheit kund. »Möglichst wenig bewegen.«
Eichelkraut, der neben Anneli kniete, nickte. Er stand auf und ging zu seinem Fuhrwerk. Da er unterwegs ins Holz war, hatte er nichts geladen. Er löste zwei Bohlen von dem Plattenwagen. Wir schoben sie Anneli unter und hoben sie, mittels der Bohlen, auf das Fuhrwerk. Eichelkraut wendete. Wir bewegtenuns zum Schützenhaus zurück. Ich ging hinter dem Wagen her und führte unsere Pferde.
Tante Deli, als hätte sie es geahnt, stand auf der Veranda. »Einmal mußte das passieren«, rief sie, als sie Anneli auf Eichelkrauts Fuhrwerk liegen sah, und sprang die Stufen runter.
»Sachte mit die jungen Ferde«, rief Eichelkraut. »Nicht anrühren!«
Tante Deli, neben dem Wagen, rang die Hände. Anneli schloß die Augen. Jetzt kamen Joachim, Robinson, mein Vater, Werner, ich weiß nicht, wer noch. «Einmal mußte das passieren«, rief Tante Deli. »Ich habe immer gesagt, sei vorsichtig. Diese verdammte Reiterei. Tragt sie ins Haus.«
»Nicht anrühren«, sagte Eichelkraut.
Mein Vater lief ins Haus. »Ich telefoniere. Sie muß ins Krankenhaus.« Seine Erfahrung aus Weltkrieg eins half ihm, das Richtige zu tun.
Ich stand immer noch hinter dem Fuhrwerk, die beiden Pferde am Zügel. Irgend jemand entwand mir die Leinen und führte die Pferde weg.
Zwei Stunden später, Tante Deli und ich saßen im Warteraum vom Krankenhaus, kam der Arzt. »Hahn«, stellte er sich vor. Wir schüttelten ihm die Hand. »Ich kann Sie beruhigen«, sagte Dr. Hahn. »Nichts Schlimmes, nichts gebrochen. Eine Prellung der Halswirbel. Leider schmerzhaft. Zwei Wochen Ruhe. Wir haben die Patientin in Gips gelegt.«
»Können wir sie besuchen?« fragte Tante Deli.
»Ganz kurz. Keine Aufregung, wenig sprechen. Keine Berührung, klar?«
Anneli lag ausgestreckt auf dem Rücken. Mit dem Gipskragen sah sie aus wie Maria Stuart. »Wie konnte das passieren?« fragte Tante Deli, obwohl ich ihr, während wir warteten, den Unfall in allen Einzelheiten geschildert hatte.
Anneli blinzelte mir zu, wie auf dem Waldweg, als sie zwischen den Wagenfurchen gelegen hatte. Ich blinzelte zurück. Eine Krankenschwester drängte uns aus dem Zimmer.
Noch einmal sah ich mich um. Annelis Kopf saß auf diesemweißen Gipsstiel wie eine Mohnblüte, denn ihr Gesicht leuchtete rot. Die Haare standen ihr zu Berge. Sie hatte die Augen halb geschlossen. Als sie merkte, daß ich sie ansah, versuchte sie ein Lächeln. Die weiße Reihe ihrer Zähne erschien in dem Mohnblumen-Gesicht.
Kein Lobgesang auf weibliche Schönheit. Dennoch, nach so vielen Jahren erinnere ich mich an Annelis Gesicht über dem Gipskragen mit Rührung. Ich habe es nicht vergessen, und es war und ist mir genauso lieb wie ihr Gesicht in allerglücklichsten Stunden.
Ich besuchte sie jeden Tag. Wir redeten über alles mögliche, den Kintopp, meinen Bruder, der trotz Familie, trotz Norne Isabella seinen Weg ging wie ein einsamer Elefant. Wir sprachen darüber, daß Anneli auf die Reit- und Fahrschule nach Krampnitz zurückgehen wolle, das Viererzug-Fahren hatte es ihr angetan. »Turniere kann ich vorläufig nicht reiten«, sagte sie.
»Wieso?«
»Dr. Hahn sagt das. Zu gefährlich. Es dauert ein Jahr, bis ich keine Schmerzen mehr habe.« Sie lächelte ihr neues, sanftes Lächeln, wie durch den Schmerz hindurch. »Es macht mir nichts«, sagte sie. »Reitest du?«
Ich schüttelte den Kopf. »Seit deinem Unfall…«
»Du mußt dich nicht entmutigen lassen«, sagte sie. »Ein paar Wochen Ruhe, dann reite ich wieder mit dir aus.« Sie nuddelte sich eine Locke über den Finger. »Von jetzt an reitest du vorweg. Ich meine das ernst. Du kannst nicht nur in dem Kintopp glucken. Joachim hält das aus. Du nicht.«
Sie sah mich an, nachdenklich. »Vielleicht hältst du es aus«, sagte sie. »Ich möchte aber, daß wir zusammen reiten.«
»Was hast du davon?« fragte ich. »Niemand ist so ungeschickt wie ich. Auf dem Gaul sitze ich wie auf einem Sägebock. Meinetwegen bist du vom Pferd
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