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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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für guten Empfang. Die Antenne führte durch einen Fensterspalt ins Gastzimmer und wurde ebenfalls mit dem Radio verbunden.
    Lehmann drehte an den Knöpfen. Es krachte und knisterte im Lautsprecher. Nach einer Weile hörten wir, wie von einer schlechten Schellackplatte, Operettenmusik. »Übertragung aus dem Rundfunkstudio Berlin«, sagte Lehmann, mit einem Ton, als habe er dieses Monstrum erfunden. Kitty wiegte sich im Takt der sogenannten Musik. Mein Vater, Robinson und die anderen machten höflich erwartungsvolle Gesichter, ich tat es ihnen gleich.
    Da war sie, die neue Zeit. Faszinierend? Ich konnte das nicht für mich entscheiden. Für Lydia jedoch schienen diese Apparate wirklich Faszination auszustrahlen. Mit gläubigem Gesicht starrte sie auf den Lautsprecher, aus dem erst Knurren, dann Musik strömte. Ihr Gesicht glich den Gesichtern von Stummfilmschauspielerinnen, die in Kirchen vor Madonnenstatuen auf die Knie fallen. Sie war nicht von den Apparaten wegzubringen, dreimal rief Tante Deli sie aus der Küche, bis sie ging – rückwärts und indem sie einen Stuhl umwarf.
    Damals ging Lydia mit Bierfahrer Huberts Sohn aus erster Ehe, mittlerweile ein Schlaks von fast zwanzig, der Pomade in seine Haare schmierte und wie ein orientalischer Basar roch. Hubert entschuldigte sich jedesmal für seinen Sohn, wenn er Bier lieferte. »Hannemann ist besser, als er aussieht«, sagte Hubert.
    Er nannte seinen Sohn Hannemann. Alle nannten diesen Stenz Hannemann, bis auf Huberts Frau. Huberts Frau wollte möglichst wenig von Hannemann wissen.
    Hannemann trank elegante Sachen wie Pomeranzenlikör. Errauchte flache Orientzigaretten, die er einem silbernen Etui entnahm und mit einem Ende auf die Tischplatte klopfte. Daumen und Zeigefingerspitze seiner rechten Hand waren gelb von Nikotin. Lydia himmelte Hannemann an. Sie stellte sich neben ihn, sooft es ging, und sah ihm zu, wie er Rauchringe blies. Hin und wieder nippte sie an seinem Pomeranzenlikör. Sie verbrachte ihre freien Tage mit ihrem Kavalier. Ich stellte mir das Paar in allen möglichen Zuständen vor, Zuständen, in denen Verklebtheit eine Rolle spielte, verursacht durch Likörchen und Pomade. Wenn sie diesem Menschen übers Haar strich, wie sie es mit mir getan hatte, unten am Weiher – wo ließ sie danach ihre Hand? Stand sie auf und wischte die Pomade in ein Handtuch? Hütete sich vor neuer Berührung mit dem Kleisterkopf? Und wenn sie sich küßten mit diesen Likörlippen …
    Ach, Äonen waren vergangen seit unserem Sommertag am Weiher.
    Eines Tages sagte Lydia zu Hannemann, sie wolle ein Radio haben. So ein schickes Ding wie Lehmann und Kitty es hatten. Die Antenne baumelte noch draußen an den Bäumen.
    Hannemann steckte die Daumen in die Ärmellöcher seiner Weste, lehnte sich zurück. Er wippte mit dem Stuhl und grinste. Die Zigarette klebte einen Moment lang auf der Zungenspitze, ein Trick, mit dem Hannemann renommierte. »Abwarten und Tee trinken«, sagte er. Gerne benutzte Hannemann abgegriffene Redensarten, eine Eigenschaft, die neue Phantasieschübe bei mir auslösten mit Bezug auf das Intimleben dieses Paares. Was mochte Hannemann seiner Lydia ins Ohr säuseln, wenn sie allein waren, hinten im Park oder in Lydias Zimmer? Hannemann führte seine likörklebrigen Lippen an Lydias Ohr. die rosige Muschel, wie er einmal sagte, und flüsterte: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide« oder ähnlich Abgegriffenes.
    Lydia, möglich, ließ Hannemann nicht leiden, erhörte ihn. Blaue Adern. Ich unterdrückte meine Gedanken – vorbei. Vorbei wie die Tage mit Mariechen, der Gazelle mit ihrem festen Körper, der bräunlichen Haut.
    Lydia jammerte nach ihrem Radio. Hannemann brachte nie Gesehenes. Nicht den mächtigen Apparat, aus drei Teilen bestehend, wie Lehmann ihn vorgeführt hatte. Auf die Tischplatte stellte Hannemann eine winzige Vorrichtung. Auf eine Holzplatte war ein Glasröhrchen montiert, darin ein Kristall. Hannemann erklärte, Vakuum sei da drin. Mit Hilfe eines Hebels stochere man an dem Kristall. »Setz die Kopfhörer auf«, befahl er Lydia. Nun verbarg sie ihre rosigen, Einflüsterungen wahrscheinlich ergebenen Ohrmuscheln hinter schwarzen Metalldosen, ein Kopfbügel aus Stahl führte über ihren Scheitel. Bananenstecker eingestöpselt. »Wackle mit dem Ding!« befahl Hannemann.
    Lydia stocherte auf dem Kristall. Auf einmal verklärte sich ihr Gesicht. »Musik«, sagte sie. »Ich höre Musik!«
    Hannemann lächelte. Er nahm Lydia

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