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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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sie sich, wenn das Radio »Es war einmal ein treuer Husar« spielte. Da blickten sie alle auf unseren Vater, als habe er das Lied erfunden.
    Einmal dachten sie im Rundfunkhaus an mich. Sie spielten: »Flieg, du kleine Rumplertaube.«
    Den Detektor erbte ich, Hannemann schenkte ihn mir in einem Anfall von Großmut. Was hatte ihm Lydia erzählt? Wußte er um unser Abenteuer am Weiher? Verband ihn das mit mir? Ich dachte nicht weiter nach. Lieber nicht
    Werner Spiehr verfolgte, was das Radio an Melodien brachte. Am Tisch saß er, ein Bier vor sich, Ober Krause servierte ungefragt von Zeit zu Zeit eine Molle. Werner hielt die Quetsche auf den Knien, suchte sich die Melodien zusammen. Einem Zigeunergleich, besaß er das Talent, nach Gehör zu spielen, Schlagermelodien wußte er geschwind auswendig.
    Wenn Werner spielte, schwieg das Radio. Meistens fand das zu später Abendstunde statt, wenn das Lokal leer war, die Frauen Gläser zusammenräumten, über die Tische wischten.
    »Herr Wirt, noch ’ne Lage«, intonierte Werner. »Drei Kümmels, vier Bier. Herr Wirt, keine Frage. Kassiert wird bei mir.«
    Werner trank einen Schluck, meinte: »Det is von Paul Abraham.« Er kannte alle Komponisten.
    Zusammen mit Anneli hörte er Platten, oben unter dem Kronleuchter, manchmal vermischte sich die Musik von dort mit dem Radioprogramm. Niemand beschwerte sich, damals waren die Menschen geduldig.
    Wenn Werner eine Melodie beherrschte, intonierte er sie auf der neuen Kinoorgel. Mächtig hallten die Töne im Saal, die Musik veredelte Joachims Stummfilm-Vorführungen. Anneli und ich setzten uns in die letzte Reihe und gaben uns der Macht der Musik hin. So jedenfalls nannte es Hannemann, wenn Anneli und ich verschwanden: »Sie geben sich der Macht der Musik hin.«
    Was fühlte ich, während die Orgel dröhnte, während Greta Garbos Gesicht zweimeterhoch auf der Leinwand erschien?
    Vielleicht erregt es Verwunderung, wenn ich sage: nichts. Mein Herz, meine Seele, mein Innenleben, mein Gemüt waren blank und weiß wie die gestärkte Jacke von Robinson Krause – wo andere Kellner die Wochenkarte auf den Revers mit sich umhertrugen, blieb Robinsons Jacke blank und weiß. Ich hätte meinen Zustand genausogut mit den Schneeflächen am Nordpol vergleichen können. Nansens »In Nacht und Eis« hatte ich gelesen, die Fotos seiner »Fram« im Packeis gesehen. Nirgends ein Mensch, nirgends ein Tier. Nur dieses Weiß.
    Ich weiß nicht, was Anneli dachte, wenn wir da im Dunkeln saßen, Seite an Seite, diesem Mischmasch aus Klassik, Tango und Schlager hingegeben, mit dem Werner Spiehr das Programm begleitete. Ich weiß nur, daß ich zufrieden war. Tief zufriedenund leer. Fast haßte ich es, wenn Werner sein Spiel unterbrach und Erklärungen abgab:
    »Wie ziehen sich die Kavaliere aus der Affäre? Sie verjagen die Majorin. Sie wandert dahin im Schnee. Das Hochwasser braust…« Und ähnliches. Werner las die Bücher zu den Filmen, erzählte Dinge, die gar nicht auf der Leinwand sichtbar wurden.
    Das Publikum nahm’s hin. Manchmal pfiff einer von Wilfrieds Kumpeln auf den Fingern, oder, in den seltenen Augenblicken der Stille, rollten Bierflaschen unter den Sitzen. Dann zischte sofort jemand »Ruhe bitte!«, mächtig setzte das Orgelspiel ein.
    Neben mir, im Flackern des Projektorlichts, sah ich Anneli. In diesem Licht erschien ihr Gesicht weiß. Heute würde ich scherzen: Das paßte zu meinem Innenleben. Doch das stimmt nicht. Mein Gehirn stellte keine Zusammenhänge her. Seine Trennschärfe übertraf die des Radioapparates. Es war nicht nötig, an einer Spule zu ruckein.
    »Sprich, was wahr ist, trink, was klar ist.« Mit diesem Spruch, in Kreuzstich auf weißem Leinenstreifen, überraschte Anneli meinen Vater zum Geburtstag. Mein Vater pinnte den Spruch ans Regal mit den Gläsern und Flaschen, unter den Radioapparat. Da verblich er, das Leinen verdreckte, die blanken Knöpfe der Reißnägel dunkelten nach. Annelis Spruch – woher hatte sie ihn; – paßte in unsere Kneipe. Besonders der zweite Teil: »Trink, was klar ist.« Für die erste Zeile hätte niemand geradegestanden. Wo war die Wahrheit? Die Gespräche an den Tischen deckten Hilflosigkeit auf. Wirtschaftskrieg. Ein paar Millionen Arbeitslose. Eine Million davon, dachte ich mir, lebten in der Laubenkolonie und in diesem Vorort, der mir ärmlich und lausig erschien, gemessen an den Nachrichten, die uns aus Radio und Zeitungen über die Reichshauptstadt Berlin zuflössen.
    Angeblich gehörten

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