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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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begriff ich schnell, wußte sofort mit Luftströmungen und Aufwinden umzugehen. Aber das große, befreiende Gefühl, auf das ich gehofft hatte, immer noch Günther Plüschows Worte im Gedächtnis, dieses Gefühl stellte sich nicht ein. Glitt ich wirklich einem Vogel gleich über den Sanddünen der Nehrung dahin?
    Ich fand, daß ich in einem sperrigen, starren Kasten saß, an dem knatternd der Wind zauste, war unfähig, mich anders als durch technische Hilfe und Tricks vom Boden zu lösen. Von vogelgleich keine Spur. Es tröstete mich nicht, wenn ich zusah, wie die Störche auffliegen. Sogar wenn man auf sie zukommt und sie einen bemerken, wenn man mit dem Wind kommt, laufen sie einem entgegen. Sie starten wie Flugzeuge gegen den Wind. Nur so bekommen sie genügend Luft unter die Flügel, für ihre schweren Körper.
    Aber dann. Dann schwingen sie sich in die Lüfte, starten zu ihren Langstreckenflügen, die sie von Ostpreußen bis nach Afrika führen. Einem Fischer von der Kurischen Nehrung undeinem Nilbauern aus der Gegend von Assuan sind die Vögel gleichermaßen bekannt.
    Und wir? Mühsam schrauben wir uns in die Luft, mit ungefügen Apparaten, unbeweglichen Schwingen. Sofort, im Gleitflug, erreichen wir wieder die Erde.
    Hirth, mit seiner neuen Konstruktion »Fafnir II«, flog zwar einen Rekord. Aber »zum Himmel aufschwingen« konnte er sich auch nicht.
    Über die gegen den Wind startenden Störche hatte ich bei Lilienthal gelesen. Auch ihm war das nicht entgangen. Er hielt sich Störche in Gefangenschaft, entwickelte nach den Beobachtungen, die er an ihnen machte, neue Flügelprofile. Für Lilienthal stand fest, daß der Mensch eines Tages mit beweglichen Schwingen fliegen würde. Es gab Nachfolger. Aber bis heute hat sich der vogelgleiche Flug nicht durchgesetzt. Unsere Flugzeuge funktionieren nach dem Prinzip der Fische.
    Damals, an der Nehrung, wenn es Abend wurde und die Lagerfeuer aufflammten, sprach ich mit Wuttke über die Störche. Er kannte Lilienthals Experimente, wie ich. Doch er dachte praktisch. »Hauptsache, wir sehen ihnen ab, was nützlich ist«, sagte er. »Gegen den Wind kommen auch wir in die Luft.«
    Trotz dieser Tage an der Nehrung, den Bildern, die sich mir boten, als ich am Knüppel des Segelflugzeugs saß, war ich nicht unglücklich, als ich meine Werkstatt bei Flug-Wuttke wieder betrat. Ich nahm meinen Kittel vom Haken und machte mich an die Arbeit. Neue Aufträge verlangten Überstunden. Wir entwickelten eine Serie von Modellen nach ausländischen Flugzeugtypen für die Reichswehr. Ein neues Unterrichtsfach in der Flugabwehr hießt dort Flugzeugerkennungsdienst. Die Alliierten hatten Deutschland wieder eine beschränkte Flugabwehr zugestanden.
    Heiligabend. Tante Deli stand auf der Trittleiter und putzte den Weihnachtsbaum. »Zum ersten Mal sind wir eine Familie«, sagte sie, Hoffnung in den Augen. Noch war nicht sicher, ob Joachim aus dem grünen Waggon herüberkommen würde. Erfühle sich, hatte er mir gebeichtet, unfähig, all diesem Familienglück seine Poren zu öffnen.
    Er sagte wirklich »Poren zu öffnen«, noch immer griff er manchmal im Wort zu hoch oder mindestens daneben, wie ich das aus unserer Kinder- und Jünglingszeit gewöhnt war. »Außerdem plagt mich Isabella«, sagte Joachim. »Sie ist auf Julklapp aus.«
    »Damit hat Anneli Erfahrung«, scherzte ich. »Vielleicht gewinnen wir einen neuen Arsch mit Ohren.«
    Ich fragte Joachim, die Stunde war günstig, was er an Isabella finde. Warum er sich nicht von ihr trenne?
    »Wieso trennen?« murmelte Joachim. »Es ist alles gleich.«
    Ich insistierte: »Wieso alles gleich?«
    Joachim zeigte nach oben, wo die Treppe in den ersten Stock mündete. »Da oben«, sagte er, »kannst du den Grund sehen. Sie auf dem Foto steckt mir verquer im System. Unsere Mutter.«
    Ich setzte zu einer Erwiderung an, aber er schnitt mir das Wort mit einer Handbewegung ab: »Alle sagen, ich war winzig, als sie starb. Alle sagen, ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht stimmt das, vielleicht nicht. Wieweit kann sich der Mensch zurückerinnern? Gibt es vielleicht sogar eine unbewußte Erinnerung? Es ist nicht so, daß sie mir, wie sagt man, vorschwebt. Mir ist, als sei das Leben zwischen ihr und mir nicht zu Ende gelebt. Und jedes Mädchen, das kommt, kriegt das zu spüren. Verstehst du nun?«
    »Kein weihnachtliches Thema«, sagte ich.
    Er nickte. »Vielleicht komme ich, vielleicht nicht.«
    Er kam, mit Isabella. Sie trug Zivil, Rock und Pullover.

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