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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Handgelenke und Knöchel waren mit Riemen ans Bett gefesselt. Im nächsten Moment entdeckte er die gebogene Chromstange über seinem Bett – einem Krankenhausbett. Gleichzeitig stellte er fest, dass er einen grünen Kittel trug, genauso wie die Gefangenen hinter dem Gitter. Und noch etwas fiel ihm an ihnen auf: ihre kahl geschorenen Köpfe. In der Dunkelheit glichen ihre weit aufgerissenen Augen weißen Wunden. Sie grinsten, knurrten, grunzten. Er spitzte die Ohren und verstand einzelne Worte, auf Malaiisch, Chinesisch, Thai … Absurdes, zusammenhangloses Gefasel. Das waren Verrückte.
    Er war in einem Irrenhaus.
Ein Name kam ihm in den Sinn: Ipoh, die größte psychiatrische Anstalt Malaysias. Eine jähe Furcht ergriff ihn. Warum hatte man ihn hierher gebracht? Er war nicht verrückt,trotz der Gesichter, trotz der Albträume – verrückt war er nicht. Er versuchte sich die letzten Tage ins Bewusstsein zu rufen, erinnerte sich aber nur an Bambusblätter, an Wände aus Rattangeflecht. Was war geschehen? Hatte er wieder eine Krise gehabt?
    Er hörte Geräusche hinter sich, das Knarzen eines Sessels, das Rascheln von Papier. Mitten in der Nacht waren diese Geräusche noch sonderbarer als alles Übrige. Reverdi verrenkte sich den Hals, um ihre Ursache zu ergründen. Ein paar Meter entfernt entdeckte er einen eisernen Schreibtisch, auf dem sich Papierstapel türmten.
    Ein Wärter, der hinter dem Tisch gedöst hatte, war aufgestanden und richtete seinen Gürtel, an dem ein Revolver, eine Tränengasbombe und ein Schlagstock hingen. Nicht gerade typisch für einen Krankenpfleger. Jacques befand sich also in der Abteilung für Straftäter. Der Mann knipste eine Taschenlampe an und kam auf ihn zu. Reverdi forderte auf Malaiisch:
    » Tutup lampu tu « – mach das aus.
    Der Wärter machte vor Verblüffung einen Satz zurück. Noch mehr hatten ihn die malaiischen Worte überrascht. Nach kurzem Zögern schaltete er die Lampe aus und umrundete vorsichtig das Bett. Jacques sah ihn in der Dunkelheit nach einem Lichtschalter tasten.
    »Kein Licht«, befahl er.
    Der Mann erstarrte. Seine andere Hand umklammerte die Schusswaffe am Gürtel. Ringsum herrschte jetzt vollkommene Stille, die Gefangenen waren verstummt. Nach ein paar Sekunden nahm der Wärter die Hand vom Schalter.
    »Ich will dein Gesicht nicht sehen«, zischte Reverdi. »KeinGesicht. Nicht jetzt.«
»Ich hole den Pfleger. Du kriegst eine Spritze.«
Reverdi zuckte zusammen. Augenblicklich war sein Körperschweißüberströmt. Er durfte nicht mehr schlafen. Im Schlaf warteten die »anderen« hinter dem Rattangeflecht auf ihn. »Nein«, flüsterte er, »das nicht.«Der Malaie grinste, seine Selbstsicherheit kehrte zurück. Er ging zum Wandtelefon.
»Warte!«
Der Wärter fuhr zornig herum, die Hand am Schlagstock. Er hatte keine Lust mehr, sich von einem mat salleh verrückt machen zu lassen.
»Schau mir in den Hals«, befahl Reverdi.
Widerwillig kam der Wärter zum Bett zurück. Jacques riss den Mund auf und fragte:
»Was siehst du?«
Der Malaie beugte sich misstrauisch vor. Jacques streckte die Zunge heraus und biss mit aller Kraft die Kiefer zusammen. Aus seinen Mundwinkeln spritzte das Blut.
»Himmel …«, stieß der Wärter hervor und stürzte zum Telefon.
Ehe er den Hörer abnahm, rief Reverdi ihm zu:
»Hör zu! Wenn du den Pfleger rufst, hab ich sie komplett durchgebissen, bevor er hier ist.« Er lächelte; auf seinem Kinn bildeten sich warme Blasen. »Ich werde behaupten, du hast mich geschlagen und gefoltert …«
Der Mann stutzte, und Jacques nutzte seinen Vorteil:
»Rühr dich nicht von der Stelle. Ich werde mich schlafend stellen und bis morgen früh still halten. Es geht alles gut. Beantworte mir nur meine Fragen.«
Der Malaie schien noch zu zögern, dann ließ er die Schultern sinken; er kapitulierte. Von einem fahrbaren Tisch nahm er eine Rolle Klopapier, trat argwöhnisch auf Jacques zu und wischte ihm den Mund ab. Reverdi dankte ihm mit einem Nicken.
»Bin ich in Ipoh?«
Der Wärter bejahte. Ein Schnurrbart teilte sein Gesicht, das von Aknenarben übersät war – regelrechte Abgründe klafften darin, die im nächtlichen Dunkel an Mondkrater erinnerten.
»Seit wann bin ich hier?«
»Seit fünf Tagen.«
Nach einer raschen Überschlagsrechnung fragte Jacques nach: »Haben wir Dienstag, Mittwoch?«
»Mittwoch. 12. Februar. Zwei Uhr morgens.«
Er hatte keinerlei Erinnerung an die Zeitspanne, die ihn vom vergangenen Freitag trennte. In welchem Zustand war er

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