Das schwarze Blut
Zähnen.
Tatsache war aber, dass ihn dieser absurde Lauf ein wenig ablenkte. Seit zwei Tagen brütete er über Elisabeths Niederlage, und sein Zorn war noch immer nicht verraucht. Vor Wut hätte er beinahe ihr Foto zerrissen. Wieso hatte sie derart versagt, wie war das möglich? War in den Cameron Highlands und hatte die Spur nicht gefunden? Er hatte sich geirrt: Dieses Mädchen taugte nicht mehr als die anderen.
Inzwischen waren sie am anderen Ende des Sportplatzes angelangt und liefen einen glutheißen betonierten Abhang hinab.
»Wir sind da«, verkündete Éric.
»Wo?«
Éric deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mächtige Rohrleitungen am Ende des Spielfeldes. Als behelfsmäßiger Schutz vor der Sonne waren Tücher aufgespannt. Dahinter war ein Stacheldrahtverhau und noch ein Stück weiter der Sumpf … »Das Quartier der Aids-Kranken.«
Davon hatte er schon gehört. Einmal hatten Wärter mit Handschuhen und Atemmasken eine Leiche in die Krankenstation gebracht. In Kanara galt Aids noch als eine Art Lepra. Die Wärter wagten HIV-Infizierte nicht einmal zu schlagen. Der Direktor hatte die »Kranken« in einem Block zusammengelegt, tagsüber jedoch versammelten sie sich hier. Randexistenzen. Ausgegrenzt von den Ausgegrenzten.
Sie traten näher. Unwillkürlich empfand Reverdi eine Mischung aus Neugier und Unbehagen. Die Kranken im Endstadium kamen nicht auf die Krankenstation, sondern wurden gleich ins Zentralkrankenhaus eingeliefert. In welchem Zustand waren die Häftlinge hier? Er stellte sich ausgemergelte Gestalten vor, die keinerlei Abwehrkraft mehr hatten, heimgesucht von allen möglichen Infektionen … Irrtum: Die Leute hier sahen auch nicht anders aus als die übrigen Gefangenen: sonnenverbrannt, struppig, in Fetzen gekleidet. Und bestens in Form. Manche spielten Karten, andere saßen plaudernd im Schatten der Rohre; insgesamt herrschte eine überschäumende, unbekümmerte Fröhlichkeit.
Ein Stück abseits qualmte ein großes Feuer, an dem sich zwischen schwarzen Rauchschwaden zehn oder fünfzehn Häftlinge, die sich ihre T-Shirts um den Kopf gewickelt hatten, mit irgendetwas beschäftigten. Der Gestank war unerträglich.
»Sie produzieren Methedrin.«
Reverdi kannte die Droge. Dreckszeug, das sich sehr leicht herstellen ließ: aus Lösungsmittel, Appetitzüglern und Rohrreiniger … Eine Götterspeise. Die Herstellung hatte nur einen Nachteil: die hohe Explosionsgefahr. Mit einem so instabilen Gemisch hantiert niemand gern. Die Häftlinge hier kannten solche Skrupel freilich nicht: Auf sie wartete ohnehin der Tod, und die Aussicht, in Stücke gerissen zu werden, hatte keinen Schrecken für sie.
Éric ging auf den Eingang der Kanalisation zu, Reverdi folgte. Nach dem gleißenden Licht war die jähe Dunkelheit ein Schock: Als wäre er plötzlich erblindet, musste er stehen bleiben, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Dann sah er, dass er sich in einem Tunnel befand, der überfüllt war wie ein Métro-Bahnsteig zur Stoßzeit. Gruppen saßen, an die gekrümmte Wand gelehnt, zusammen, dazwischen standen Zelte aus Lumpen. Éric bahnte sich einen Weg durch das Gewühl. Hier und dort flackerte ein Flämmchen, und es roch penetrant nach Petroleum. Männer kauerten am Boden wie Tiere, andere lagen ausgestreckt und schlotterten unter ihren Lumpen. Reverdi wusste nicht, ob sie alle Aids hatten – sicher aber waren sie alle auf Turkey.
Hier hausten also die Gespenster, die ständig in die Krankenstation kamen und um Medikamente gegen die Schmerzen bettelten. Anschließend kehrten sie in ihre Tunnelröhren zurück und verschacherten die kostbaren Pillen. Streckten den Schuss mit Abwasser. Infizierten sich gegenseitig mit benutzten Spritzen. Reverdi fragte nicht mehr, was Éric hier wollte: Jemand versteckte sich in diesem Sterbeheim.
Sie stiegen über reglose Körper hinweg. Jacques erkannte vertraute Zeichen – hervortretende, verhärtete Venen, Blutergüsse, eingefallene Gesichter. Auch Hände ohne Finger, Füße ohne Zehen, wie es in Gefängnissen gang und gäbe ist: Solange der Heroinsüchtige auf seinem Trip ist, hat er jedes Empfindungsvermögen verloren. Während er in anderen Sphären schwebt, fressen die Ratten seine Extremitäten an – und er wacht mit abgenagten Fingern und Zehen wieder auf.
Reverdi begriff, dass sie in einer Art »Ratssaal« gelandet waren. Männer saßen reglos im Schneidersitz um ein Feuer in der Mitte und starrten mit leeren Augen vor sich hin. Nur ihre
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