allein war, befühlte er die unteren Gliedmaßen. Die Gelenke gaben nach – gebrochen. Er konnte sich leicht vorstellen, was geschehen war. Die Filipinos, die im Dienst der Chinesen standen, hatten Hadschdscha – mit Ramans Segen – in seiner Zelle überfallen, geknebelt und ihm das Fernseherkabel um den Hals gelegt, das sie am Abflussrohr befestigten. Dann hatten sie ihn an den Beinen gezogen, bis die Halswirbel brachen.
Unter den Fingernägeln des Toten fand Reverdi Hautreste – der Knabe hatte sich noch gegen seine Henker zu wehren versucht. Aber welche Chance hatte er gegen Totschläger, die schon wegen einer Schachtel Zigaretten mordeten?
Vor einiger Zeit hatte ihn Hadschdscha um Schutz angefleht.
»Mal sehen«, hatte er geantwortet.
Dann hatte ihn Éric dringend um Hilfe für Hadschdscha gebeten.
»Mal sehen«, hatte er geantwortet.
Jetzt sah man.
Und er hatte keinen Finger gerührt, um dem Knaben beizustehen.
Er empfand nicht das leiseste Bedauern. Im Gefängnis herrscht weder Solidarität noch gegenseitige Unterstützung. Es ist eine Welt der Eigeninteressen, die nebeneinander bestehen, ohne sich je zu vermischen, und wenn es doch einmal vorkommt, dass sie sich zur Erlangung eines gemeinsamen Ziels verbünden, lautet die generelle Regel, niemals aus dem engen Kreis des eigenen Daseins herauszutreten. Eine Rattenlogik, in der alle Intelligenz nur dem unmittelbaren Überleben dient.
Doch jetzt war alles anders.
Jacques nutzte die ihm auferlegte Totenwache in der menschenleeren Krankenstation zwischen Formalinbehältern und Desinfektionsmitteln, um mit Hilfe seines MiniaturOrganizers seine Mailbox aufzurufen.
Ein Wunder erwartete ihn: Elisabeth hatte den Weg gefunden. Sie hatte erkannt, was die Wegmarken der Ewigkeit bedeuteten. Und sie verfiel jetzt in die Sprache reiner Liebe.
Jacques nahm bei seiner Antwort auch kein Blatt mehr vor den Mund. Er erteilte ihr neue Anweisungen. Wie immer empfand er leise Bedenken: War es richtig, ihr so sehr zu vertrauen? Zu keiner Menschenseele hatte er je ein Wort über sein Geheimnis verlauten lassen … Aber es blieb ihm nichts anderes übrig: Es war der einzige Weg, um sich mit Elisabeth zu vereinigen.
Eine Stunde später, vor dem ersten Appell, wurde er in seine Zelle zurückgebracht.
Er ging in sein Bad und nahm die Zahnbürste in die Hand.
In ihrem Kopf, tief zwischen den Borsten verborgen, hatte er eine Rasierklinge versteckt. Eine mörderische Klinge, völlig unsichtbar. Sanft fuhr er mit dem Zeigefinger darüber.
Es war an der Zeit, Hadschdscha zu rächen.
Und Elisabeth den Blutzoll zu zahlen, den er ihr schuldete.
KAPITEL 54
Sonntag, 1. Juni, Thailand.
Dreizehn Uhr.
Die Insel Phuket ließ sich nicht in die Karten schauen. Der bescheidene Flughafen, die Souvenirläden, die bemaltenSchuppen der Tourismusagenturen: Alles atmete das Flair tropischer Inseln. Das exotische Reiseziel schlechthin.
In Wahrheit war Phuket eine der heißesten Gegenden Thailands und eine Hochburg des Sextourismus. Mark war sich bewusst, dass er in einen neuen Kreis der Hölle eintrat. Was erwartete ihn – nach Malaysia und den pointillistisch geschächteten Frauenleichen, nach Kambodscha und den mit Honig versiegelten Wunden – jetzt in Thailand?
Am Samstagmorgen, nur wenige Stunden nach seinem Mail, hatte er eine Antwort erhalten:
Von:
[email protected] Gesendet: 31. Mai 2003 8:30 An:
[email protected] Betreff: TAKUA PAMeine Liebste, ich konnte es kaum erwarten, dass du deinen Weg wiederfindest. »Unseren« Weg. Diese tief unter der Welt des äußeren Scheins und des menschlichen Mittelmaßes verlaufende Linie, die uns vereint.
Lise, meine Liebste, du hast es verstanden, das Band zwischen uns neu zu knüpfen. Noch dazu hast du dich für eine offene Sprache entschieden, und dafür danke ich dir. Auch mir hat das Schweigen zwischen uns tief ins Herz geschnitten.
Deine Entdeckungen führen uns noch näher zueinander. Bald wird unserer Vereinigung nichts mehr im Wege stehen. Zuvor aber musst du die dritte Etappe bewältigen. Du musst dich nach Thailand begeben, genauer gesagt auf eine Insel im Südosten des Landes …Mark hatte in Siem Reap die morgendliche Pendlermaschine verpasst und erst am Abend nach Phnom Penh zurückkehren können. Dort angelangt, hatte er sich wieder im Renaksé einquartiert und am anderen Morgen den ersten Flug nach Bangkok genommen. Gleich nach der Landung war er, ohne das Flughafengelände zu verlassen, gegen elf Uhr vormittags in die nächste Maschine nach