Das schwarze Blut
Gericht beobachtet hatte, warenauch sie gewöhnliche Menschen. Manche waren Hünen, andere wurden von Ticks gebeutelt, wieder anderen stand die Brutalität ins Gesicht geschrieben, und doch gab ihre äußere Erscheinung nichts Wesentliches preis. Ihr Geheimnis, ihr Abgrund war – und blieb – in ihnen verborgen.
In solchen Augenblicken zweifelte Mark an seinen Fähigkeiten. Warum gelang es ihm nicht, sie zu verstehen? In ihren Kopf einzudringen? Sie sich vorzustellen, während sie ihr Massaker verübten? Manchmal geriet er darüber regelrecht in Zorn, und es tat ihm fast leid, dass er sie nicht auf frischer Tat ertappen konnte, mit blutigen Händen, vor ihren erkalteten Opfern kniend.
Obwohl er sich mit diesen abscheulichen Fällen so intensiv beschäftigte, hatte er gerade mal ein paar Bilder zusammengetragen, ein paar Leitmotive, die ihn gelegentlich im Schlaf heimsuchten. Er freute sich darüber: zumindest etwas, das er mit den Mördern teilte.
So ging ihm das Geräusch einer Klinge nicht mehr aus dem Kopf, der Klinge von Francis Heaulme, der am Strand von Moulin Blanc in der Nähe von Brest einer Frau die Kehle aufgeschlitzt hatte. Mark hatte die Fotos gesehen: ein sauberer, tiefer Schlitz vom Kehlkopf bis hinter das linke Ohr. Das Opfer war im Badeanzug auf dem Kiesstrand gefunden worden, und zwischen dieser nackten Wunde auf exponierter Haut und den Wind und Meer ausgelieferten Kieselsteinen bestand gewissermaßen eine grausame Verbindung. Zuerst tauchte nur diese düstere Szene in seinen Träumen auf, doch dann riss ihn auf einmal ein leise zischendes Geräusch aus dem Schlaf: das Sirren des Klappmessers, das den Hals entzweischnitt.
Auch von einem geheimnisvollen Gemälde träumte er: der Darstellung einer sehr mageren Frau mit amputierten Händen. Die feierliche Gestalt schritt versonnen dahin, und vor dem offenen Bauch hing ein verschnürtes Päckchen mit ihren Gedärmen. Jedes Mal fragte sich Mark, noch im Schlaf: Wer war sie? Wo hatte er sie schon gesehen? Nach und nach formte sich die Antwort, die ihn schließlich aufwachen ließ. Das Gespenst des Sex-Appeal. Ein Bild von Salvador Dalí.
1998 hatte Mark Erkundigungen über eine Mordserie in Perpignan angestellt, bei der vermutet wurde, dass sich der Täter von ebendiesem Gemälde hatte inspirieren lassen. Zumindest in einem Fall hatte er der jungen Frau den Bauch aufgeschlitzt und die Hände abgetrennt. Der Mörder war noch auf freiem Fuß, und solange man den Mann nicht geschnappt hätte, war Mark überzeugt, dass ihn seine Besessenheit umtreiben und vergiften würde, ihn, den einzelgängerischen Journalisten, der das Geheimnis lüften wollte und doch nur winzige Bruchstücke davon zu fassen bekam, Chimären …Das Piepsen des Anrufbeantworters riss ihn aus seinen Gedanken – seitdem er aufgestanden war, sann er über den Fotos von Reverdi vor sich hin. Verghens’ Stimme hallte durch den weiten leeren Raum des Ateliers: »Ich bin’s. Vor drei Tagen hast du mir deinen beschissenen Artikel über die Sache in Malaysia geschickt. Ich will hoffen, dass du bis zum nächsten Redaktionsschluss mit Neuigkeiten aufwarten kannst. Ruf mich heute Vormittag an. Unbedingt.« Pause. »Denk dran, dass in ein paar Wochen Krieg ist. Dann interessiert sich keine Sau mehr für unsere Geschichten. Also, in Gottes Namen: Servier uns einen Knüller!«Bei der Erwähnung des bevorstehenden Konflikts im Irak musste Mark lächeln. Als hätte er einen Countdown nötig, um sich ins Zeug zu legen. Elf Uhr vormittags. Er öffnete seine Mailbox: Weder von der AFP noch von Reuters, noch von Associated Press war eine Nachricht gekommen. Auch nicht von seinen Kontaktleuten bei der News Straits Times und dem Star, den wichtigsten Zeitungen von Kuala Lumpur. Keine Antwort vom DPP, dem Deputy Public Prosecutor – dem malaysischen Äquivalent des öffentlichen Anklägers –, dem er eine Anfrage geschickt hatte. Auch die französische Botschaft, von der man jeden Tag ein Kommuniqué hätte erwarten können, hüllte sich in Schweigen. Offensichtlich war Reverdi noch immer in der Psychiatrie, seine Krise noch nicht überstanden. Auch wer sein Anwalt war, wusste man noch nicht. Totaler Stillstand.
Mark stand auf, um sich in seiner amerikanischen Küche, die sich zum Atelier hin öffnete, einen Espresso zu machen. Er war ein fanatischer Kaffeetrinker – einer seiner Junggesellenticks. Er hatte seine Kanäle, über die er sich einzigartige ArabicaRöstungen, seltene Robusta-Sorten,
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