Das schwarze Blut
Loch und schob die aufgeworfenen Hügel mit den Fersen fort.
Nach einer Weile hatte er eine ansehnliche Grube ausgehoben, scharrte aber, vornübergebeugt und atemlos, immer weiter. Krabben streiften seine Stirn und flohen vor seinen Armen. Als er in einer Tiefe von einem Meter angelangt war, richtete er sich auf und sagte sich, dass er von Sinnen sei. Hier war keine Leiche.
Auf einmal erstarrte er. Dort unten vor seinen Füßen rührte sich etwas im Loch. Etwas glänzte aus der Dunkelheit hervor und bewegte sich. Ein Zischen ertönte, dann ein zweites, gedämpft vom Sand. Schlangen. Mark wich zurück und versuchte aus der Grube zu klettern. Zu spät. Die Tiere schlängelten sich zwischen seinen Füßen hindurch. Weißlich. Geschmeidig. Abscheulich. Stocksteif stand er da, und es geschah das Wunder: Die Schlangen verschwanden, ohne ihn anzugreifen.
»Die Tempelwächterinnen«, flüsterte er.
Kein Zweifel: Das Schlangennest hatte Reverdi selbst hier eingesetzt. Eine letzte Schutzmaßnahme gegen ungebeteneBesucher. Wie aber hatte er das Risiko eingehen können, dass Elisabeth knapp vor dem Ziel ums Leben kam? Mark ahnte, welcher Logik der Verrückte folgte: Der Mörder bot sie dem Schicksal als Opfer dar. War sie die Erwählte, würden die Schlangen sie verschonen. Andernfalls gäbe es nichts zu bedauern …»Hundsfott«, murmelte Mark.
Die Existenz dieser Falle ermutigte ihn, bewies sie doch, dass dort unten etwas vergraben war. Nachdem er vorsichtig dieGrube abgetastet hatte, um sich zu vergewissern, dass die Bahn frei war, machte er sich verbissen wieder ans Werk. Gebückt und ächzend stemmte er sich gegen die Wände. Er hatte Sand im Mund, in den Augen, in den Ohren. Nichts, nichts, noch immer nicht. Am Rand der Erschöpfung richtete er sich auf, schwankte, ließ sich auf den Hintern fallen.
Es war wie ein elektrischer Schlag.
Der Aufprall hatte nicht den erwarteten dumpfen Ton ergeben. Eher ein verhaltenes Knistern. Jäh fuhr er herum und scharrteund schaufelte jetzt wie rasend. Kurz darauf stieß er auf einen in Plastik gewickelten Gegenstand. Er fürchtete sich nicht davor, die Leiche zu berühren. Diese blasse, silbrige Gestalt, die nach und nach zum Vorschein kam, übte im Gegenteil eine geradezu hypnotisierende Wirkung auf ihn aus. Bis zu den Hüften legte er den Körper frei.
Er sah, dass die Leiche unter der Plastikfolie unversehrt erhalten war. Kopf, Schultern, Hüften, alles war ganz deutlich zu erkennen. Die Haut war sehr weiß und schien makellos, bis auf die schwarzen Einschnitte, die unter der durchsichtigen Hülle den Weg des Lebens bezeichneten. Das Ganze erweckte den Eindruck aseptischer Sauberkeit.
Wie lang war die Frau schon tot? Sie hätte längst von Würmern und Krabben zerfressen sein müssen. Sicher wandte Reverdi eine Technik der Einbalsamierung an. Oder er besaß eine unvergleichliche Konservierungsmethode. Mark dachte an seine Reportage über jenen berühmten »Anatom und Künstler«, einen Deutschen, der eine Technik zur dauerhaften Konservierung von Leichen erfunden hatte: die »Plastination«.
Mark grub die Beine vollends aus. Ohne zu überlegen, kletterte er aus der Grube und schaufelte den ausgehobenen Sand beiseite, bis er eine Rinne ins Freie geschaffen hatte. Dann legte er sich flach auf den Bauch und packte die Leiche unter den Achseln. Seine Hände glitten an der Plastikfolie ab, die ihm glitschig erschien, als wäre sie mit einer schützenden Ölschicht versehen. Zu guter Letzt gelang es ihm, den Körper aus dem Loch zu ziehen. Im selben Moment packte ihn der Abscheu, gegen den er sich zunächst immun geglaubt hatte.
Es war natürlich eine Frau.
Ihr Gesicht war fahl und knochig. Die offenen Augen, die tief in den Höhlen schimmerten, ähnelten Glaskugeln. Die dünnen Lippen waren über bleichem Zahnfleisch, aus dem kleine grausame Zähne spießten, zu einem starren Grinsen gefletscht. Ein Albino, dachte Mark. Sogar die Haare wirkten farblos unterder Plastikfolie.
Er zerrte die Leiche aus dem Dickicht unter dem Pfahlgerüst hervor. Sie war winzig. Die sterblichen Überreste eines Kindes. Die durchscheinende Haut schien in einem geheimen Einvernehmen mit dem Mond zu stehen. Mark setzte sich in den feuchten Sand und betrachtete die am Körper anliegende, mit großen Heftklammern befestigte Hülle. Auf einmal durchfuhr ihn ein wahnwitziger Gedanke.
Diese Leiche war nicht einbalsamiert worden: Sie war gefriergetrocknet.
Reverdi hatte sie tiefgefroren und ihr dann unter
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