Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Donnerstag, dem 5. Juni, fühlte Mark sich keines Gedankens fähig.
    Unruhig hatte er sich in seinem Sitz hin und her geworfen und nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Die Anspannung hatte den ganzen Flug über angehalten: Seine Gliedmaßen waren steif, die Hände brannten. Kurz nach dem Start hatte sich die überschwängliche Begeisterung aus der VIP-Lounge in Furcht verwandelt, von der ihn nichts abzulenken vermochte, weder die köstlichen Satay-Spießchen noch die reizenden Stewardessen, noch das Angebot an Spielfilmen: Mark nahm alles nur durch den Filter seiner Krise wahr und erlebte den gesamten Flug als vierzehnstündige Krankheit.
    »Legen Sie jetzt bitte die Sicherheitsgurte an.«Mark folgte der Aufforderung. Je wacher er wurde, desto mehr fühlte er seinen Verstand zurückkehren. Er bemerkte das Frühstückstablett auf dem Tischchen neben ihm, und während er sich über Rührei und Croissants hermachte, dachte er an sein Abenteuer, seine Entdeckungen, seinen Roman. Seine Reise war doch ein Erfolg gewesen. Er war in den Geisteszustand eines Mörders eingedrungen. Er hatte Zugang zu seinem Wahnsinn gefunden wie der Archäologe Zutritt zur Grabkammer einer Königin. Und war jetzt weit fort. Zwölftausend Kilometer vom Mörder entfernt. In der Sicherheit der Stadt. Herr über seine Beute. Die Fortsetzung des Abenteuers würde allein in seiner Fantasie stattfinden. Auf dem Boden der Fiktion würde er seine Studie vertiefen, allen Spuren nachgehen, das Universum des Mörders bis ins letzte Detail ausleuchten.
    Als die Maschine aufsetzte, wurde aus der Ahnung Gewissheit: Er hatte die Angst hinter sich. Er war am Ende des Tunnels angelangt, wo das Licht ihn erwartete und die Wahrheit gleichbedeutend war mit Ruhm, Reichtum und – endlich – Frieden.
    Um sechs Uhr morgens ähnelt der Flughafen Roissy einem der metaphysischen Gemälde von Giorgio de Chirico: eine riesige menschenleere Rotunde, in der das Leben jede Orientierung, jede Berechtigung zu verlieren scheint. Eine immense Leere in Muschelform, durch die endlos die Nichtigkeit des Daseins hallt.
    Seine Reisetasche war unter den ersten Gepäckstücken, die auf dem Rollband auftauchten – ein Privileg der Business-ClassPassagiere. Er nahm sie an sich und trat in den ungewissen Tag hinaus. Im Taxi nahm der Eindruck von allgegenwärtigem Schmutz noch zu: Das trübe Licht schien sich klebrig und zäh an die Fensterscheiben zu heften. Entlang der Autobahn erstreckten sich endlose Ebenen, öde Brachen, Schlachtfelder, deren Tote abgeholt worden waren. Die Weltuntergangsstimmung war ihm nichts Neues, schon oft hatte sie ihn heimgesucht, wenn er im Morgengrauen von einer langen Reise zurückkam. Es war das Gefühl, dass während seiner Abwesenheit etwas Unwiderrufliches geschehen war, ein Erdbeben, ein Atomkrieg … Nur die Werbeplakate standen noch, ein letztes Aufbäumen einer Welt im Niedergang.
    Mark sah sie, ohne sie wahrzunehmen. Es waren riesige, an Drahtseilen aufgespannte Leinwände, die sich wie Segel blähten.
Plötzlich schrie er den Fahrer an: »Halten Sie an!« Der Mann zuckte zusammen: »Was?«
»Anhalten!«
»Geht’s Ihnen nicht gut? Müssen Sie kotzen?«
»STOPP!«
Missmutig bremste der Fahrer ab und blieb auf demPannenstreifen stehen.
»Fahren Sie ein Stück zurück.«
»Sie haben sie wohl nicht mehr alle!«
»Gottverdammte Scheiße«, murmelte Mark vor sich hin. Er riss die Tür auf und sprang auf den Asphalt hinaus, denAktenkoffer mit seinem Computer in den Armen. Gut dreihundert Meter musste er zurücklaufen, bis er bei der Reklame ankam, die ihn aufgerüttelt hatte. Er ging noch ein Stück weiter, um sie aus gebührendem Abstand betrachten zu können.
    Atemlos drehte er sich um.
Über ihm hing, sechs Meter hoch, Khadidscha, die schwarzen Augen forschend zum Horizont gerichtet.
    Mark rang nach Luft, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Dabei lag sie auf der Hand: Vincent hatte gute Arbeit geleistet. Während Mark in Asien gewesen war, hatte er für sein aufstrebendes Model einen lukrativen Vertrag ergattert.
    Innerhalb weniger Wochen war Khadidscha zum Star aufgestiegen.
    Ein Gesicht, das jetzt sicher sämtliche Straßen von Paris zierte. Auf vierzig Quadratmetern Werbefläche.
Sie hat es verdient, ging ihm durch den Kopf, obwohl es aus seiner Sicht eine absurde Feststellung war. Sie war überwältigend. Im Dreiviertelprofil richtete sie ihren dunklen Blick ungestüm auf die Welt. Doch auf dem Grund

Weitere Kostenlose Bücher