Das schwarze Blut
festgehalten hatte, kam er sehr schnell voran: Er schaffte mehr als zwanzig Seiten pro Tag. Er schrieb wie in dauernder Trance. Manchmal hielt er inne, um zu lesen, was er geschrieben hatte – und erschrak vor sich selbst. Je weiter der Roman voranschritt, desto stärker identifizierte er sich mit dem Mörder. In aller Ausführlichkeit ging er auf die brutalen und sadistischen Einzelheiten der Verbrechen ein. Sein Ton erreichte bisweilen die Offenheit eines privaten Tagebuchs, einer Beichte. Dann erinnerte er sich an Patang, an seine Krise, als er durch die Straßen gerannt war und verzweifelt eine Prostituierte gesucht hatte … Doch obwohl er sich derart rückhaltlos mit seinem Protagonisten identifizierte, war er letztlich enttäuscht. Es war ihm nicht gelungen, den Kern zu erfassen – das Wesen des kriminellen Triebs. Die Lust am Bösen. Zwar hatte er gewissermaßen die Schwarze Linie überschritten, aber der Wunsch nach Vernichtung, die Gier nach dem Leiden anderer blieben ihm letztlich fremd. Er hatte sich dem Grauen nur angenähert, ohne es zu begreifen oder nachzuempfinden. Er verspürte keinerlei Wollust, hatte keine Erektion bei der Vorstellung von Blut.
Müsste er darüber nicht erleichtert sein?
Im Gegenteil. Die Erkenntnis hinterließ eine seltsame Bitterkeit. Er hatte seine Aufgabe nicht erfüllt. Er war nicht so weit gegangen, wie er hätte gehen müssen – Sophie zuliebe.
Ende Juli war die Rohfassung fertig.
Zwei Monate lang hatte er von der Welt ringsum nichts mitbekommen. Weder die Hitzewelle, unter der ganz Europa stöhnte, noch der Tod von Marie Trintignant, die an den Misshandlungen ihres Geliebten gestorben war, entlockten ihm die geringste Regung.
Mark bewegte sich in einer anderen Welt.
Er schrieb »Schwarzes Blut«, die Geschichte eines Tauchers und Mörders.
In groben Zügen hielt er sich an sein ursprüngliches Exposé und schilderte das Abenteuer eines einzelgängerischen Journalisten, der quer durch Asien den Spuren eines Serienmörders folgt. Von der offiziellen Geschichte Jacques Reverdis war er abgerückt, hatte allerdings zwei entscheidende Elemente beibehalten, die eine Brücke zur Wirklichkeit schlugen: Der Schauplatz war Südostasien, und der Mörder war ein Tauchlehrer und ehemaliger Champion im Freitauchen.
Mark folgte den realen Stationen seiner Ermittlungen und beschrieb die Stück für Stück gewonnenen Erkenntnisse: den Weg des Lebens, die Wegmarken der Ewigkeit, die Kammer der Reinheit, das Schwarze Blut. Was die Umgebung und seine Reaktionen und Empfindungen anging, so brauchte er nur sein elektronisches Logbuch zu Rate ziehen und die Aufzeichnungen zu übernehmen, die ihm die Länder selbst diktiert hatten. Er veränderte lediglich die Personen- und Ortsnamen.
Als persönliche Note hatte er sich eine dramatische Zuspitzung ausgedacht, um die Spannung zu erhöhen: Während der Held ihm nach und nach auf die Schliche kam, hielt der Mörder eine junge Touristin gefangen und bereitete ihre Opferung vor. Der Roman wechselte zwischen den jeweiligen Perspektiven hin und her, bis sich die beiden Erzählstränge in der finalen Konfrontation vereinigten.
Die einzige echte Schwäche des Buchs war das Ereignis, das Mark von Anfang bis Ende hatte erfinden müssen: die Initialzündung, das Trauma des Mörders. Er wusste nicht, warum sich Jacques Reverdi in das gnadenlose, blutgierige Ungeheuer verwandelt hatte, das er heute war. Ebenso wenig konnte er erklären, was es mit dem sonderbaren kindlichen Ausruf »Versteck dich, schnell, Papa kommt!« auf sich hatte oder weshalb das Rascheln der Bambusblätter den mörderischen Trieb auslöste.
Es blieb ihm nichts anderes übrig als von den ihm bekannten Bruchstücken auszugehen. So fand sein Mörder als Jugendlicher den leblosen, ausgebluteten Körper seiner Mutter, nicht anders, als es der echte Jacques erlebt hatte, allerdings mit dem Unterschied, dass die fiktive Mutter noch nicht ganz tot war und der künftige Killer vor einer Sterbenden kauerte, die ihm die Identität seines Vaters verriet, eines monströsen Charakters, während sie ihm mit blutigen Händen übers Gesicht strich – schwärzlichen, federleichten Händen, deren Berührung er als das traumatische Ereignis erlebte, das später in dem zweifachen Wahn des schwarzen Blutes und der raschelnden Blätter seinen Niederschlag fand.
Nach der Lektüre der ersten Fassung war Mark recht zufrieden mit seinem Werk. Es war kein literarischer Wurf, doch in der Schilderung der Anfälle
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