Das schwarze Blut
Vergangenheit kam ihm in den Sinn, aus einer Zeit, als er und Vincent im Erfolg gebadet hatten: reich, stolz, strotzend vor Vitalität – und völlig verrückt. Eines Nachts hatten sie sich in einer Gruppe zum Bungee-Jumping zusammengetan und waren von der Chatou-Brücke gesprungen.
Damals hatte er nicht gekniffen. Angeschirrt mit Gurten und Karabinerhaken war er auf die Brüstung geklettert. Unter seinen Füßen gähnte der Abgrund. Schon vor dem Sprung hatte er zu sterben gemeint. Das schwarze Wasser mehr als vierzig Meter unter ihm hielt ihm den Spiegel seines Todes entgegen. Und gleichzeitig zog es ihn unwiderstehlich an, ja es verschlang ihn bereits.
Ganz ähnlich erging es ihm jetzt.
Nur sicherten ihn diesmal weder Gurte noch Haken und erst recht kein Gummiseil an den Füßen.
KAPITEL 71
»Hei, Elisabeth!«Mark fuhr entgeistert herum. Mit diesem Vornamen angesprochen zu werden traf ihn wie ein Schlag im Nacken. Während er tief in Gedanken die Place Saint-Georges überquerte, hatte ihn eine Hand an der Schulter berührt. Er musste sich konzentrieren, um durch die sprühenden Funken vor seinen Augen den Mann zu erkennen, der vor ihm stand.
Alain.
Der Postbeamte.
»Wie geht’s ihr denn?«, fragte Alain mit fröhlichem Grinsen. Mark hatte den Mann, der einmal sein Schicksal in denHänden gehalten hatte, völlig aus dem Gedächtnis verdrängt: Das alles schien hundert Jahre her. Alain kam ihm noch winziger vor als auf seinem Stuhl hinter dem Schalter. Dunkle Haut und Pferdeschwanz: eine Miniatur-Rothaut.
Mark warf reflexhaft seine Haarsträhne aus der Stirn und zerbrach sich den Kopf nach einer plausiblen Antwort, aber es fiel ihm nichts ein, ja er wusste nicht einmal, ob der Postbeamte von einer echten Elisabeth sprach oder ob er schon längst begriffen hatte, dass sie nicht existierte.
»Äh … inzwischen ist alles wieder gut«, stammelte er schließlich.
»Sie sollte mal ihre Briefe abholen«, sagte Alain augenzwinkernd.
»Ach, es sind Briefe angekommen?«
Der Vietnamese lachte. »Jede Menge! Achtundzwanzig, um genau zu sein.«
Dreißig Minuten später kam Mark mit einem Packen Briefumschlägen im Arm aus dem Postamt. Alain hatte sie ihm gnädig ausgehändigt, obwohl der Lager- und Nachsendeantrag seit langem abgelaufen war.
Auf der Straße blieb er stehen und sah sich die Kuverts an. Sie trugen alle denselben vorgedruckten Absender, ein mit arabischen Buchstaben kalligrafisch gestaltetes Logo. Offensichtlich hatte Reverdi nach Jimmys Tod eine islamische Vereinigung zu Hilfe genommen, um seine Post unbemerkt von der Obrigkeit zu verschicken. Mark begriff jetzt, was hinter der Pressemeldung steckte, wonach sich Jacques vorwiegend in der Umgebung frommer Muslime aufhielt … Er sah sich die Poststempel an. Knapp drei Monate lang hatte der verliebte Mörder alle drei Tage einen Brief geschrieben. Sie waren chronologisch geordnet. Mark konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein paar an Ort und Stelle zu lesen.
Er fing mit dem ersten an, der vom 12. Juni stammte:
Mein Liebes, seit zehn Tagen habe ich keine Mail von dir bekommen. Zuerst war ich beunruhigt. Ich hatte Angst, es sei dir auf der letzten Insel etwas zugestoßen. Aber das kann ja nicht sein, ich hätte es erfahren. Bestimmt liegt eine technische Störung vor: Aus irgendeinem Grund kommen deine Nachrichten nicht bei mir an. Ich weiß nicht, ob du meine Mails empfängst. Sicherheitshalber schreibe ich dir wieder an deine Pariser Adresse …Mark stopfte das Blatt ins Kuvert zurück und riss den nächsten Brief auf, der vom 15. Juni war. Sein Blick fiel auf die Zeilen:
… Dein Schweigen ist mir zunehmend rätselhaft … Was ist inPhuket geschehen? Warum höre ich nichts von dir? … Der dritte Brief war auf den 19. Juni datiert. Der Ton hatte sich radikal geändert:
… ich war von einer technischen Störung ausgegangen, doch es erweist sich, dass deine Mailadresse nicht mehr existiert … Mark übersprang ein paar Absätze und las:
… Soll das etwa ein Spiel sein? Wenn ja, kann ich deine Gedankenlosigkeit nicht begreifen. Du kennst mich jetzt. Du weißt, dass ich es bin, der die Regeln aufstellt …Gegen Ende des Briefes wurde der Ton wieder versöhnlicher:
… Dein Schweigen tut mir weh, aber es ist immer noch eine Freude, dir zu schreiben, von Hand, wie in unserer Anfangszeit …Mark zerknüllte den Brief und riss ein Kuvert auf, das Anfang Juli aufgegeben worden war. Die Schrift war fahriger:
Elisabeth, dein Schweigen nimmt inzwischen eine
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