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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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den kurzen Atem des Kindes. Der Anblick dieses Athleten von olympischem Format, der sich nach und nach in verschiedene Personen verwandelte, war grauenhaft. Ja, Dr. Norman hatte Recht: Jacques Reverdi bestand nicht nur aus einer einzigen Person. Mehrere unterschiedliche Wesen sprachen gleichzeitig aus ihm, ohne je ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden.
Mark wand sich innerlich, seine Kopfschmerzen waren unerträglich geworden. Schwarze Flecken tanzten durch den kugelförmigen Raum. Würde er das Ende der Geschichte noch erleben?
Als hätte Reverdi seinen Gedanken erraten, sagte er: »Das Schlimmste war der Sauerstoffmangel. Ich bekam kaum Luft in meinem Versteck – und dazu die Panik vor dem Ersticken. Die Todesangst. Ich weiß nicht, wie, aber eines Tages fand ich ein Gegenmittel …«
Unerwartet breitete sich ein strahlendes, stolzes Lächeln über sein Gesicht.
»Die Waffe, die mich unbesiegbar machte: Ich lernte es, die Luft anzuhalten. In meinen Biografien heißt es, ich hätte die Apnoe erst in Marseille gelernt, nach dem Tod meiner Mutter, aber das stimmt nicht: Dieses Märchen hab ich selbst in die Welt gesetzt. In einer Pariser Vorstadt hab ich’s gelernt. In einem Kleiderschrank.
Ich weiß nicht, wie es kam, aber eines Tages hörte ich auf, zwischen den Ritzen des Rattangeflechts verzweifelt nach Luft zu japsen. Ich hielt einfach den Atem an. Und dann geschah ein Wunder: Es erfüllte mich auf einmal eine phänomenale Kraft. Das Gestöhne meiner Mutter rückte in weite Ferne, ebenso die Angst vor meinem Vater, seinen vielen Gesichtern, alles … Wenn ich zu atmen aufhörte, wuchs eine Mauer zwischen mir und der Außenwelt, eine Wand, die nichts hindurchließ. Alles prallte an meinem Panzer ab. Ich war undurchdringlich geworden.
Ich fing an zu trainieren. Jede Nacht übte ich in meinem Versteck und hörte nichts mehr von ihrem Geschrei, ihrem Gestöhne, ihrem obszönen Gestammel: Ich konzentrierte mich, um meine Zeiten zu verbessern. Dazu bediente ich mich einer Uhr, die – ein nettes Detail am Rande – einer meiner Väter vergessen hatte. Ich wurde immer besser. Und immer stärker. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Schrank: Ich war selber zum Safe geworden, hermetisch abgeriegelt und unverletzlich, der meine Identität gegen die Außenwelt schützte.
Dank dieser Disziplin konnte ich erwachsen werden. Es ist mir gelungen, meine Albträume zu bezwingen, aber auch meine Triebe, die mir immer unheimlicher wurden. Meine Pubertät zum Beispiel war nicht das Erwachen der Liebe, sondern des Todes. Selbstverständlich konzentrierten sich meine Mordgelüste auf meine Mutter. Ich hörte Stimmen, die mich aufforderten, sie umzubringen. Aber wenn es zu schlimm wurde, wenn ich nahe daran war, den Stimmen zu gehorchen, habe ich die Luft angehalten, und die Krise ging wieder vorbei.
Gleichzeitig veränderte sich die Situation zu Hause. Meine Mutter verlor das Interesse an mir – für ihre perversen Spielchen war ich inzwischen zu groß geworden. Den Stimmbruch hatte ich hinter mir, der Bart fing zu wachsen an, mit zwölf war ich schon fast einen Meter achtzig groß. Ich war nicht mehr der niedliche Knabe, im Gegenteil. Das Kräfteverhältnis kehrte sich um. Sie konnte mir nichts mehr anhaben, konnte mir nicht mehr ihren Willen aufzwingen. Übrigens hatte sie selbst sich verändert. Ihre Schönheit war welk geworden, sie schminkte sich grell, sie trank zu viel. Ihr Charme war dahin, und sie kam nicht mal mehr bei den Sozialfällen an, wenn sie verkatert zu ihrer Kundschaft ging. Oft genug kam sie abends ohne Beute zurück, war verzweifelt und betrank sich umso mehr.
Mit dreizehn fing ich an, mich um sie zu kümmern, gab ihr zu essen, brachte sie ins Bett, achtete darauf, dass sie sauber war. Ich päppelte sie wie ein Bauer seine Mastgans – mit der Vorfreude auf ein Festmahl des Hasses. Ich wartete, bis sie reif war. Um sie zu opfern. Aber sie hatte Glück. Seitdem ich nicht mehr im Schrank sitzen, mich nicht mehr von ihrer kranken Fantasie quälen lassen, ihre Sexorgien nicht mehr miterleben musste, hatte meine Wut sich nach und nach gelegt. Am Ende hatte ich fast Mitleid mit diesem menschlichen Wrack. Vor allem nachdem ich ihre Krankheit erkannt hatte, diesen unheilbaren Krebs, der sie auffraß: den Hunger nach Sex. Seitdem es nicht mehr so lief wie früher, war meine unersättliche Mutter auf Turkey.
Inzwischen war ich vierzehn und ging mehr oder minder regelmäßig ins Gymnasium – immerhin war ich häufig

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