Das schwarze Blut
Unglaublich – er hat ihr Blumen mitgebracht. Ein kleines ramponiertes Sträußchen, das einer geballten Faust gleicht. Ihr Blick kehrt zu ihm zurück: Er nickt ihr mit einem mechanischen Lächeln zu. Der Mann hat Charme, erinnert aber ein wenig an einen unglücklichen, ewig hinauskomplimentierten Verlobten. Khadidscha stellt sich ein Leben wie ein graues Ufer vor, an dem die verpassten Gelegenheiten vorüberziehen.
Vorsichtig öffnet sie die Lippen – inzwischen sind die Fäden entfernt worden. »Ist er … tot?«
Der Polizist erhebt sich und verströmt dabei eine intensive Duftwolke. Seine Blondheit leuchtet förmlich auf. Ein Frühstück mit Honig. Die Hände in den Taschen, geht er schweigend auf und ab. Khadidscha nimmt innerlich Anlauf, um einen vollständigen Satz herauszubringen:
»Ist … er … tot … oder … nicht?«
»Ja. Kein Zweifel.« Er zögert. »Seine Leiche haben wir allerdings noch nicht gefunden.«
Sie schließt die Augen, und die Panik wallt wieder auf. Als hätte er an ihrem Gesicht gelesen, was in ihr vorgeht, sagt der Polizist beschwichtigend:
»Warten Sie. Aus der Druckkammer ist Reverdi zwar entkommen. Die Männer des Überfallkommandos waren von ihren Schutzanzügen und Atemmasken behindert, während er ohne Gewichte, barfuß fliehen konnte. Innerhalb der Anlage wagte niemand zu schießen: Es wäre zu gefährlich gewesen.«
Khadidscha stellt sich das Labyrinth runder Korridore vor, stählerne Wände, Apparate. Und Reverdi im Taucheranzug, der zwischen chromblitzenden Rohren verschwindet.
»Aber draußen vor dem Gebäude haben ihn die Scharfschützen erwischt. Er hat mindestens fünf Kugeln abgekriegt. Und das waren Eliteschützen, spitzenmäßig trainiert. Auf die ist Verlass.«
»Warum … keine Leiche?«
»Er muss es irgendwie geschafft haben, die Anlage im Westen zu verlassen, obwohl er angeschossen war. Die Fabrik ist in Nogent-sur-Marne, das wissen Sie, oder? Wir vermuten, dass er in den Fluss gesprungen ist, der am Gelände vorbeifließt.«
Er hält inne, tritt an den Nachttisch und zupft geistesabwesend an den Blumen herum.
»Eine irgendwie erschreckende Vorstellung: dieser Typ im Taucheranzug, den es zum Wasser hinzieht wie ein Tier, das in sein Element zurückkehrt.«
Ohne zu wissen, was er tut, reißt er zwei Blütenblätter aus.
»Er muss schon tot gewesen sein, als er ins Wasser gefallen ist. Daran kann gar kein Zweifel sein. Seit zehn Tagen suchen wir den Fluss ab.«
Sie schweigt. Er beteuert noch einmal, als erriete er ihre Gedanken: »Er ist tot, Khadidscha. Kein Zweifel.«
Er sagt noch etwas, doch Khadidscha hört Reverdis Stimme, dort in der Druckkammer: »Wo Wasser ist, bin ich unbesiegbar.«
KAPITEL 87
Anfang November erwachte Mark aus dem Koma.
Khadidscha war schon seit einigen Tagen wieder auf den Beinen. Sie besuchte ihn. Er lag im Nebenzimmer, aber erst jetzt ließ man sie zu ihm. Sie erschrak bei seinem Anblick. Nicht wegen der Apparate, an die er angeschlossen war, nicht wegen der Monitore, die das Funktionieren seines Organismus überwachten, sondern seinetwegen. Wegen seines Gesichts. Dieser gesenkten, trotzigen Stirn, die nach wie vor von Dämonen heimgesucht schien. Ausgemergelt und fast kahl lag er im Bett – auch ihn hatte man geschoren; sie sahen beide aus wie KZ-Überlebende.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl jede Mundbewegung eine Qual war. Er war völlig abgemagert, in seinem Gesicht standen die Knochen hervor und warfen Schatten auf seine weiße Haut. Ein Totenkopf. Unter dem tizianblonden Flaum aber war diese Blässe zugleich leuchtend, beinahe phosphoreszierend. Sie dachte an die aus Orangenschalen gebastelten Lämpchen, deren Innenhaut weiß strahlt, ohne zu verbrennen.
Sie trat näher. Auf jeder Schnittwunde klebte ein Pflaster – an den Schläfen, der Kehle, den Schlüsselbeinen, den Unterarmen. Sie wusste, dass die Serie sich unter dem Hemd, unter der Bettdecke fortsetzte – sie hatte dieselben Pflaster auf der Haut, und der Arzt hatte nicht zu viel versprochen: Die Schnitte waren binnen weniger Tage vernarbt. Ironie des Schicksals: Nach Ansicht des Arztes war diese ungewöhnlich rasche Heilung dem Honig zu verdanken, mit dem die Wunden bestrichen waren.
Das Erste, was Mark sagte, war: »Sie haben ihn nicht. Sie haben seine Leiche nicht gefunden.«Khadidscha lächelte wieder, traurig. Offensichtlich hatte er nur einen einzigen Gedanken, seitdem er ins Bewusstsein zurückgekehrt war: Reverdi war am Leben. Reverdi war hinter ihnen
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