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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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her. Reverdi würde sie vernichten …Sie begriff, dass Marks Psychose ein aussichtsloser Fall war: Auch wenn er vor Reverdis Leiche stand, würde er noch das Schlimmste fürchten, ihm übernatürliche Fähigkeiten unterstellen. Aus dem Koma war Mark aufgewacht – nicht aus seinem Albtraum.
    Daraus würde er nie erwachen.
Er war unheilbar.
    Khadidscha verließ das Krankenhaus.
Sie verließ Mark, den grauen, gefurchten Arzt, den goldenen Polizisten.
Sie ließ alles hinter sich, was sie an die traumatischen Ereignisse erinnern konnte.
Sie kehrte in ihre Wohnung in der Avenue de Ségur zurück.
An ihren Schreibtisch. Zu ihrer Dissertation. Ihren Philosophen.
    Aber es war ihr alles fremd geworden. Nach dem Grauen, das sie erlebt hatte, erschienen ihr die philosophischen Gebäude reichlich abstrakt. Um nicht zu sagen abwegig.
    Umso überraschter war sie, dass die Modewelt wieder um sie warb. Man hatte sie nicht vergessen. Mehrere Agenten waren vorstellig geworden, um Vincents Platz einzunehmen. Fotografen, Agenturen, Modemacher riefen an. Wussten sie nicht, dass sie entstellt war? Wer wollte in der Welt des vollendeten Scheins eine Frau mit durchbohrten Lippen?
    Sie täuschte sich. Als Erste erklärte ihr Marine, ihre Visagistin, dass die Narben auf den Fotos nicht zu sehen seien. Alles eine Frage der Schminke und der Beleuchtung. Und vor allem, so Marine, sei ihr Gesicht »total angesagt« – und so lange das so sei, könne sie auch ein Holzbein haben, die Fotografen würden sich schon zu helfen wissen.
    Im Übrigen – noch eine unerwartete Entwicklung – hatte ihr Gesicht durch die kurzen Haare an Kraft und Ausstrahlung gewonnen. Scharf und kantig wie Feuerstein ließen sie ihre herbe Schönheit zutage treten.
    Und nicht zuletzt hatte der Fall Reverdi viel Aufsehen erregt – er war das Körnchen Wahrhaftigkeit, der leichte Schwefelgeruch, die in ihrer Zunft nur sehr wenige aufweisen konnten. Schon immer war Khadidscha ein wenig geheimnisumwittert gewesen. Jetzt war sie atemberaubend – und machte Furore in der Szene den ganzen Winter 2003 hindurch.
    Sie nahm die Herausforderung an. Wild entschlossen unterschrieb sie Verträge.
Und kehrte zurück auf den Weg des Lichts.
    Trotz ihrer guten Vorsätze ging sie bald wieder ins Krankenhaus zu Mark.
Einfach aus Solidarität, sagte sie sich.
Jeden Tag besuchte sie ihn in seinem sonnendurchfluteten Zimmer. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln breitete sich ein fahles Schweigen zwischen ihnen aus, zäh, glatt, unerschütterlich. Mark gefiel sich in seiner Wortlosigkeit, und Khadidscha versuchte gar nicht erst, ihn aus sich herauszulocken. Seine Stummheit verbarg unentwirrbare, abgründige Gedanken – die sie gar nicht wissen wollte.
Draußen im Flur traf sie bisweilen Ärzte, die sie beruhigten: Mark wäre bald wieder gesund. Bald könne man ihn entlassen. Sie hörte auch heraus, was man ihr verschwieg: dass er unter Beobachtung stand. Alle sorgten sich um seine geistige Gesundheit.
Er sprach nicht, aß kaum, schlief ungewöhnlich viel. Er schien sich in den Schlaf zu flüchten – der nicht besonders erholsam sein konnte, wenn er von denselben Albträumen heimgesucht wurde wie Khadidscha. Aber sie vermutete, dass er sich absichtlich hineinstürzte in diese morbiden Visionen und Wahngebilde, geradezu magisch angezogen von den abstoßendsten Erinnerungen. Als versuchte er – und es überlief sie kalt bei dem Gedanken – auf dem schmalen Pfad der Träume mit Reverdi zu kommunizieren … Nach außen jedoch zeigte Mark seine permanente Angst. Über seinen Anwalt hatte er Polizeischutz verlangt. Interessanterweise hatte der Untersuchungsrichter sofort zugestimmt und einen Polizisten vor seiner Tür postiert – womit er eingestand, was alle insgeheim befürchteten: dass Reverdi den Zusammenstoß in Nogent-sur-Marne überlebt hatte.
    Am 12. November gelang es Khadidscha, zu einem Gespräch mit dem Psychiater vorgelassen zu werden, der offiziell mit der Betreuung von Mark Dupeyrat betraut war. Er war klein, hager, sehr dunkel, trug einen viereckigen Bart und hatte die Angewohnheit, einzelne Silben zu betonen, die sie an einen deutschen Akzent erinnerten.
    »Es gibt keine Geisteskrankheiten«, dozierte er, während er seine Pfeife reinigte, »es gibt nur unverarbeitete Konflikte.«
Oho!, dachte Khadidscha und legte ein Bein über das andere. In dem Moment sah der Arzt sie mit unverhohlener Neugier an. Anscheinend waren ihm jetzt die Narben in ihrem Gesicht aufgefallen: sechs

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