Das schwarze Blut
Einsamkeit.
Mark las auch die Anekdoten noch einmal, die er schon kannte: In Frankreich hatte eine Frau einen Strafgefangenen mit ihren sinnlichen Briefen entflammt und ihn dazu gebracht, ihr seine geheimsten Wünsche anzuvertrauen. Das pornografische Spiel alarmierte irgendwann die Gefängnisverwaltung, die der Sache nachging und feststellte, dass die Frau nicht nur verheiratet war, sondern ihre Briefe gemeinsam mit ihrem Mann schrieb; die Lektüre der eintreffenden Antworten verschaffte dem Paar eine perverse Lust …In den USA nahmen solche Betrügereien auch die Form eines lukrativen Geschäfts an. In den Gefängnissen von Kalifornien und Florida hatten mehrere Strafgefangene einen amourösen Briefwechsel begonnen, dessen Temperatur von Mal zu Mal stieg. Es dauerte nicht lang, bis ihnen die Briefpartnerinnen gegen Geld aufreizende Fotos anboten. Die Häftlinge bezahlten und vergossen Schweiß und Sperma über den Fotos von Frauen, die sie zu kennen glaubten. In Wahrheit existierten sie gar nicht: Urheber der Briefe war ganz einfach ein Pornonetzwerk unter der Regie von ein paar Schlauköpfen, die auf diesen Trick verfallen waren, um ihre Standardfotos mit einer Prise Salz – und Geld – zu würzen.
Hartgesottene Kerle, Kriminelle.
Aber auch krank vor Langeweile und Einsamkeit.
Mark faltete die Zeitung zusammen und ging zum Kopierer.
Im Geist hörte er die hohe Stimme von Pisai: »Frauenheld. Wenn Sie Interview wollen, schicken Sie Freundin.« Er begann das Dossier zu kopieren, Seite um Seite, ohne den Deckel zu schließen.
Während das Licht des Kopierers in rhythmischen Abständen sein Gesicht beleuchtete, legte er sich seinen Plan zurecht. Ein Name schoss ihm in den Kopf.
Elisabeth.
So wollte er sich nennen.
KAPITEL 11
Für die Castings hatte Khadidscha einen Trick: Philosophie.
Wenn sie in den von verhaltenem Kichern und Getuschel erfüllten Sälen wartete, in denen es nach einem Gemisch aus Kippen und diversen Parfums roch, wiederholte sie im Geist den Stoff ihrer Vorlesungen. Zusammengepfercht mit den anderen in einem fensterlosen und bis auf mehrere Reihen wackeliger Stühle kahlen Raum, dachte sie über den Substanzmonismus Spinozas nach. Während sie der üblichen anatomischen Begutachtung unterzogen wurde, rief sie sich das dialektische Verhältnis von Herrn und Sklaven bei Hegel ins Gedächtnis; und wenn man sie aufforderte, im Büro des Casting-Direktors auf und ab zu gehen, dachte sie an Nietzsches Willen zur Macht. In solchen Augenblicken gestattete ihr die Konzentration zu vergessen, dass sie nur lauwarmes Fleisch war – und nichts weiter. Auch wenn dieses Fleisch danach strebte, das teuerste von Paris zu werden.
An diesem Tag dachte sie über ein Kapitel in ihrer Doktorarbeit nach, die sich mit dem Inzestverbot befasste. In seinem Buch Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft stellt Claude Lévi-Strauss fest, die einzige Gemeinsamkeit zwischen menschlichen und tierischen Gemeinschaften, der einzige Punkt, in dem Natur und Kultur übereinstimmten, sei das Inzestverbot: ein soziales und zugleich universales Gesetz.
Dafür interessierte sich Khadidscha ganz besonders. Denn hier hatte der Ethnologe Unrecht: Offensichtlich hatte er nicht bedacht, dass Gesellschaften des Altertums, darunter herausragende Kulturen, Verwandtschaftsehen durchaus gefördert hatten. Die ägyptischen Dynastien zum Beispiel waren Verbindungen zwischen Bruder und Schwester, Mutter und Sohn, um die Reinheit des königlichen Blutes zu erhalten. Weitere Beispiele fielen ihr ein, doch sie hatte nichts zu schreiben. Seufzend klappte sie ihr Buch zu und musterte die Mädchen ringsum.
Es hatte sich die übliche Gemeinschaft eingefunden: der Verein der Magersüchtigen, die auf Hippie gestylten Modepüppchen, die Schwalben aus dem Osten … Wie immer durchzuckte sie auch diesmal ein lichter Moment, in dem sie sich fragte: Was hab ich hier verloren? Die Antwort war einfach: Kohle. Wenn man eine zweiundzwanzigjährige Maghrebinerin war, halb algerischer, halb ägyptischer Herkunft, und im Viertel »La Banane« von Gennevilliers aufgewachsen, wenn man trotz eines durch ausschließliche Ernährung mit Croissants bedingten Wachstums bei 1,79 Meter nur siebenundfünfzig Kilo wog, gab es nichts zu überlegen: Man musste sein Glück versuchen. Bei der Vorstellung, sie könnte mit ihrem Hüftschwung und ihrem ungewöhnlichen dunklen Blick Tausende verdienen, empfand sie eine Anwandlung von Stolz, jawohl. Das musste man
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