Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
ausnutzen.
    Mechanisch blätterte sie in ihrer Set-Card, finanziert von der Agentur Alice, die sie bei ihrem Kreuzzug unterstützte. Nicht gerade umwerfend, die Fotos … Was auch am Modell liegen könnte, diesem Mädchen mit olivbrauner Haut und dunklen Locken auf Hochglanzpapier, das sich um eine natürliche Miene bemühte. Aber Khadidscha liebte ihr Aussehen und trug ihren dunklen Teint wie mattschimmernde Moiréseide, die sie um sich drapierte, während sie von der Wüste träumte. Sie liebte dieses kantige, eigenartige Gesicht, mit dem sie in der Kindheit als hässliches Entlein gegolten hatte, dessen wahre Schönheit erst in der Jugend zum Vorschein gekommen war wie eine vulkanische Insel aus einem trüben Meer. Und am meisten liebte sie ihren Blick, der ein wenig asymmetrisch war, die schwarze, goldgeränderte, unter dichten Wimpern verschattete Iris. Manchmal, wenn sie sich morgens im Spiegel betrachtete, fragte sie sich mit echter Verwunderung, wie Paris bis heute auf sie hatte verzichten können.
    An diesem Tag war ihr unbehaglich zumute. Lampenfieber vor dem Casting? Nein. Es war mindestens ihre dreißigste Veranstaltung dieser Art, und mittlerweile hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt. Verlegenheit vor den anderen Mädchen? Auch nicht. Sie war an die Gesellschaft dieser großartigen Zicken gewöhnt, die einen mit einem einzigen Blick taxieren. Es war etwas anderes. Etwas Unterschwelliges, das sich ganz in der Tiefe regte. Noch einmal ließ sie den Blick über die Kandidatinnen wandern und entdeckte eine überirdische Schönheit mit glatten blonden Haaren, einen blutarmen Engel.
    Khadidscha fühlte sich an die bleichen Gestalten aus ScienceFiction-Filmen erinnert, die auf der Suche nach einem neuen Planeten sind, weil ihr Heimatplanet unaufhaltsam Energie verliert. Unter dem ätherischen Bogen der Brauen leuchtete ein kobaltblauer Stern: ein Abdruck des Himmels, ein Zeichen wie eine Abschürfung, eine Wunde.
    Khadidscha verspürte Übelkeit. Diese Blondine war es, die ihr zu schaffen machte. Sie erkannte die verräterischen Spuren unter der Schminke, die violetten Ringe unter den Augen, die feuchte Nase, die schweren Lider. Zugedröhnt, dachte Khadidscha. Eine Süchtige, ganz in ihrer Nähe, die sie anstarrte, ohne sie wahrzunehmen, mit einem nervösen Zucken um den Mund.
    Khadidscha wandte den Kopf ab und versuchte sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren, doch es war zu spät. Die Erinnerungen brachen über sie herein.
    Die Banane von Gennevilliers.
Die Schreie, die durch die Dreizimmerwohnung hallten. Die panischen Anrufe bei der Rettung.
Und ihre Eltern.
Die endlose Geschichte ihrer Sucht.
Sie war mit Heroin aufgewachsen. Es war ihre Wiege gewesen, ihre Kinderstube.
    Sie hätte nicht genau sagen können, wann und wie es ihr zu Bewusstsein gekommen war. Es war eine Wahrheit, eine Krankheit, die sich ihr nach und nach zu erkennen gegeben hatte. Mit fünf Jahren hatte sie sich an unregelmäßige Mahlzeiten gewöhnen müssen, an endloses Warten im Schulhof. Sie hatte sich der geheimnisvollen Uhr beugen müssen, die ihr Familienleben zu beherrschen schien. Einer Uhr mit weichen Zeigern, die eine Zeit, einen Tagesablauf ohne jede Logik vorgab. Ihre Eltern aßen um zwei Uhr morgens zu Mittag, blieben tagelang fort und kamen wieder, um vierundzwanzig Stunden zu schlafen.
    Vor allem aber hatte sie lernen müssen, die Angst zu bezwingen, die Angst vor den ständig drohenden Krisen, Wutanfällen, Schlägen. Der Ausbruch der Gewalt ließ sich unmöglich vorhersehen, er überfiel sie aus heiterem Himmel. Und immer hatte sie das dumpfe Gefühl, dass die Quelle des Übels anderswo war. Als Khadidscha größer wurde, begriff sie nach und nach: Die Ursache allen Kummers war die »Krankheit« von Papa und Mama. Dieses Leiden, das sie zwang, sich Spritzen zu geben, mitten in der Nacht aus dem Haus zu stürzen – und manchmal wochenlang hinter Krankenhausmauern zu verschwinden.
    Khadidscha war neun Jahre alt. Ihr Blick auf die Eltern veränderte sich. Sie vergaß ihre Furcht, ihren Groll, ihren stummen Zorn und übte sich stattdessen in allumfassender Fürsorglichkeit. Die Prügel, die Beschimpfungen, das war alles sehr ungerecht, vor allem gegenüber ihrem kleinen Bruder, der erst vier war, und den sechs- und siebenjährigen Schwestern, aber niemand konnte etwas dafür. Ihre Eltern waren Gefangene; sie waren infiziert – und eigentlich waren sie gar keine richtigen »Großen«.
    Khadidscha nahm die Dinge in die

Weitere Kostenlose Bücher