Das schwarze Blut
vorläufig niemand die Wahrheit über diesen Mann und seine Taten kannte.
Am Freitag hatte er einen weiteren Artikel zusammengeschustert, in dem er sich über den Mord in Kambodscha im Jahr 1997 verbreitete. Einen interessanten Text zu schreiben oder für Verghens einen Knüller auszugraben war ihm herzlich gleichgültig, seitdem sich die unabweisliche Überzeugung in ihm festigte: Jacques Reverdi war eine Inkarnation des Bösen, und er verfolgte ein geheimes Ziel. Er war einer dieser Rohdiamanten, hinter denen Mark schon so lange her war. Ein Mörder, der dank seiner spirituellen Praxis einen sachlichen Blick auf die eigene Psychose werfen konnte und wie durch einen Schleier das Gesicht des Verbrechens offenbarte.
Zwei Tage lang hatte sich Mark in seinem Atelier verschanzt und war erneut in seine Dokumentation eingetaucht. Zeitungsausschnitte, Fotografien, Biografien, Internetseiten – er hatte nichts ausgelassen. Er hätte ganze Passagen aus dieser Literatur auswendig hersagen können. Doch all die Berichte, Untersuchungen, Kommentare und Lobeshymnen stammten aus Reverdis »positiver« Phase. Und das Interview mit Pisai war vollkommen nichtssagend.
Ausgelaugt von achtundvierzig Stunden fruchtloser Suche war er am Sonntagabend zu der Überzeugung gelangt, dass jetzt nur eines zählte: dem Mörder persönlich zu begegnen. Ihn mit allen Mitteln zu einem Interview zu verleiten.
Das war die einzige Möglichkeit, mehr herauszubringen. Ihm war da eine Idee gekommen, vorerst nur vage; erst musste er sich vergewissern, dass ihn seine Erinnerung nicht trog. In einem anderen Gang, einem anderen Schrank wurde er fündig. Er öffnete die Schiebetür und musste eine Weile kramen, bis er hatte, was er wollte: eine alte Ausgabe des Limier. Im Stehen durchblätterte er sie und stieß endlich auf den Artikel, den er vor längerer Zeit gelesen hatte.
Es war ein Dossier über die Korrespondenz zwischen Gefängnisinsassen und Außenstehenden. Mark war kein Experte auf dem Gebiet – er wusste lediglich, dass Serienmörder stets haufenweise Post erhielten: Beschimpfungen, Aufrufe zur Einkehr und Buße, Mitleidsbezeugungen, aber auch Gedichte, Liebeserklärungen, Fanpost …Während er den Artikel überflog, rief er sich Zahlen und Fakten ins Gedächtnis. Ein Mörder wie Guy George hatte bis zu seiner Verhandlung täglich an die hundert Briefe erhalten. Noch erstaunlicher waren die amerikanischen Mörder, die sich auf eigenen Internetseiten vorstellten – Charles Manson hatte eine höchst originelle, kreative Seite – und Autogramme verkauften oder auch eigene Bilder und Zeichnungen, selbst verfasste Texte und Gedichte.
Doch die Reportage befasste sich nicht nur mit den Stars. Auf Kontakte mit der Außenwelt waren alle Häftlinge scharf, ob berühmt oder nicht. Die Gefängnispost war ein Universum für sich, ein Bereich regen Austausches, der meist von speziellen karitativen Einrichtungen in die Wege geleitet wurde. Über sie gingen Tausende von Briefen hin und her, und den Interessenten wurde vorsichtshalber geraten, ein Pseudonym zu verwenden und nur die Adresse der Organisation zu benutzen. Auch Zeitungsannoncen gab es wie Sand am Meer: So hatte zum Beispiel die Wochenzeitschrift L’Itinérant eine eigene Rubrik mit dem Titel »Gefühle im Schatten«, in der Strafgefangene eine Brieffreundin, eine Gefährtin oder eine verwandte Seele suchten.
Eine verwandte Seele.
Das war Marks Thema. Wie viele Romanzen aus dieserKorrespondenz entstanden, ließ sich kaum abschätzen. Zwei Zahlen nannte der Autor, die alles über die Situation sagten: Neunzig Prozent der korrespondierenden Gefängnisinsassen waren Männer, achtzig Prozent ihrer Briefpartner Frauen. Hatte ein Briefwechsel erst einmal begonnen, schwenkte er oft sehr schnell ins Zärtliche um, und manchmal gab es tatsächlich ein Happy End – eine Hochzeit gleich nach der Entlassung oder noch im Knast.
Es ging um Liebe.
Aber auch um Sex.
Die schreibenden Frauen erwarteten wohl, aus den Briefenfrüher oder später, explizit oder angedeutet, die Obsessionen der Häftlinge zu erfahren. Für die Gefangenen wiederum wurde die briefliche Beziehung zum Ersatz für die körperliche.
Mit heißem Kopf las Mark weiter. Der Autor des Dossiers vergaß auch nicht die Entgleisungen, die auf diesem Gebiet gelegentlich vorkamen. Strafgefangene sind eine leichte Beute: nicht nur hartgesottene Kerle, Kriminelle, die niemandem trauen, sondern auch Männer, die krank sind vor Langeweile und
Weitere Kostenlose Bücher