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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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»Die Fragen stelle ich. Bist du dort aufgewachsen, im Wald?«
»Bis ich fünfzehn war«, antwortete Jimmy widerwillig.
»Dann haben sie mich zur Ausbildung nach England geschickt.«
»Und wann bist du zurückgekommen?«
»Mit zwanzig. Um in KL mein Jurastudium abzuschließen.«
»Und dann?«
»Bin ich nach Hause zurückgegangen, Cameron Highlands.«
Diese Rückkehr in den Busch klang nicht sehr überzeugend. Die Cameron Highlands waren eine bei der besseren Gesellschaft von Kuala Lumpur sehr beliebte Bergregion, allerdings nur für Wochenendausflüge. Jacques konnte sich nicht vorstellen, wie sich der Anwalt im Wald verkroch.
»Es ist eben meine Heimat«, fügte Jimmy hinzu, dem die Skepsis seines Gegenübers nicht entgangen war.
Reverdi kam eine andere Idee. Dieser spätpubertäre Dickwanst erschien ihm von Sekunde zu Sekunde fragwürdiger.
»Bist du viel im Umland unterwegs?«
»Welchem Umland?«
»Rund um die Cameron Highlands, bist du oft unterwegs?«
»Ja und nein. Am Wochenende …«
Jacques witterte einen eigenartigen Geruch, etwas Scharfes, Säuerliches, das sich den Weg durch die Parfumwolke bahnte. Den Geruch der Angst. Er ließ nicht locker:
»Und wo fährst du da hin?«
»In den Norden.«
»Zur thailändischen Grenze?«
Jimmy rückte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Der Geruch wurde deutlicher, Angstmoleküle schwebten in der Luft, aber Reverdi hatte kein Mitleid:
»Warum denn dort?«
»Um … um Schmetterlinge zu fangen.«
»Was für Schmetterlinge?«
Jimmy gab keine Antwort.
»Kleine hübsche Pfauenschwänze, ganz bunt, ganz warm?«, half Reverdi nach.
»Was? Ich … ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen … Das ist doch absurd.«
Verunsichert schloss der Chinese seinen Aktenkoffer. Jacques starrte auf die fleischigen Hände und hatte eine Vision: der Anwalt als dicker Junge, der sich zwischen Schmetterlingen, Käfern, Skorpionen in der väterlichen Scheune befriedigte, sich zwischen wuselnden Insekten seine klammheimliche Lust holte. Das Bild wurde scharf und sehr klar, und Reverdi wusste jetzt, dass er ihn hatte – der Chinese war sein Gefangener im Geist. Er holte zum Schlag aus:
»Seit den neunziger Jahren, seitdem hier überall Aids grassiert, lassen sich die Malaien Kinder aus Thailand kommen. Nach meinen Informationen kostet die Entjungferung eines kleinen Mädchens fünfhundert Dollar. Nicht gerade ein Vermögen für einen reichen Bolzen wie dich …«
»Sie sind doch verrückt.«
Wong-Fat stand auf, doch Reverdi packte ihn am Handgelenk und zwang ihn, sich wieder zu setzen. Seine Geste war so rasch gewesen, dass der Wärter keine Zeit gehabt hatte, aufzuspringen.
»Sag doch, dass es nicht wahr ist«, zischte Jacques. »Dass du nicht jedes Wochenende kleine Mädchen fickst. In Keroh, Tanah Hitam, Kampong Kalai. Oh, das ist bestimmt ein Mordsvergnügen, ohne Kondom die kleinen Mädels zu vögeln, total geil!«
Der Anwalt schwieg. Sein Blick suchte irgendwo eine Zuflucht, einen Rettungsanker. Bedächtig griff Reverdi nach seiner Hand und sagte sanft:
»Du brauchst nichts zu bereuen. Nie.«
Der Chinese blickte auf. Dicke Tränen rannen über seine Wangen.
»Du kennst doch den Ausspruch des Rinzai Roku? ›Triffst du Buddha unterwegs, so töte ihn; triffst du deine Eltern, töte sie; triffst du deinen Ahnen, töte ihn! Erst dann wirst du frei sein!‹ Du musst alles annehmen. Keine Scham kennen, niemals. Verstehst du?«
Er sah einen Hoffnungsfunken in Jimmys Augen aufflackern. Das war es, wonach er gesucht hatte: die Komplizenschaft mit dem Bösen.
Jacques ließ eine Minute in vollkommenem Schweigen verstreichen, damit Jimmy sich wieder fangen konnte, und fuhr dann fort:
»Jetzt bin ich an der Reihe.«
Der Chinese schnaufte vor Erleichterung: Fürs Erste hatte er es überstanden.
»Steh auf und stell dich hinter mich.«
Wong-Fat gehorchte widerwillig. Der Wärter richtete sich auf und beobachtete die Szene aufmerksam. Jimmy beschwichtigte ihn mit einer Handbewegung.
»Schau meinen Nacken an.«
Reverdi spürte den kurzen, keuchenden Atem hinter sich. Er nahm den scharfen, klebrigen Schweißgeruch wahr und empfand die eigene Trockenheit umso angenehmer: Seine Haut schwitzte nicht. Seine millimeterkurzen Haare verklebten nicht. Er stammte aus der mineralischen Welt.
»Was siehst du?«
»Eine … eine Spur.«
»Was für eine Spur.«
»Eine Linie. Eine Art Narbe, auf der keine Haare wachsen.«
»Welche Form hat die Narbe?«
Stille. Er erriet, dass der Chinese, über seinen Nacken

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