Das schwarze Blut
Hand. Als älteste Tochter wurde sie für die Familie die ordnende Kraft, die sie selbst immer hatte entbehren müssen. Jetzt war sie es, die ihre Geschwister von der Schule abholte, ihnen zu essen machte, bei den Hausaufgaben half und vor dem Schlafengehen Geschichten vorlas. Sie war es, die Schulzeugnisse unterschrieb, die Formulare der Sozialversicherung ausfüllte, sich um sämtliche bürokratischen Vorgänge kümmerte, die im Haushalt anfielen. Bald übernahm sie sogar, mit zehn Jahren, die Gänge bis zum anderen Ende von Gennevilliers, um für ihre Eltern Stoff zu besorgen, wie andere Kinder Brot kaufen gehen.
Sie wurde zur Expertin. Sie konnte einen Schuss vorbereiten, als wäre sie selbst die Abhängige: die Droge in Wasser auflösen. Erhitzen, um das Pulver zu läutern. Zur Verdünnung einen Tropfen Zitronensaft oder Essig hinzufügen. Filtrieren der Lösung durch einen Wattebausch, damit keine Verunreinigung hineinkommt, und dann in der Spritze aufziehen. Andere Kinder lernen einen Kuchen zu backen, sie lernte mit Heroin umzugehen. Oder mit Crack, je nach der Phase, in der ihre Eltern sich befanden.
Sie sah sich als Krankenschwester. Ihre größte Sorge war keimfreie Sauberkeit. Unermüdlich brachte sie Bad, Küche, Toilette – alle Wasserstellen in der Wohnung – auf Hochglanz. Sie desinfizierte alles mit Alkohol und brachte es fertig, sich in der Apotheke stets einen Vorrat an sterilen Spritzen zu beschaffen. Schließlich begann sie den Eltern die Injektionen auch zu verabreichen, deren Armvenen seit langem nicht mehr zu gebrauchen, sondern vernarbt, verwachsen, voller Abszesse waren, sodass es andere Einstichstellen zu finden galt – und Khadidscha stach in die Fußsohlen, unter die Zunge, in Muskeln.
Khadidschas geheimer Garten begann um elf Uhr abends, wenn die Familienpflichten erfüllt waren. Erst dann machte sie ihre Hausaufgaben. Das war ihr Paradies. Noch heute dachte sie gern an ihre bunten Hefte zurück, an den Füller, der über das zartblau karierte Papier glitt. Der einzige Luxus ihres Lebens. Die Oase im Albtraum.
Die Jahre vergingen, die Situation verschlechterte sich zusehends. Mit zwölf Jahren hatte Khadidscha begriffen, dass »Droge« das genaue Gegenteil von »Hoffnung« war. Mit Heroin konnte man nur immer tiefer sinken, immer mehr die Orientierung verlieren, abstürzen – bis in den Tod. Die Klinikaufenthalte häuften sich, folgten in immer kürzeren Abständen aufeinander. Zum Glück waren Vater und Mutter nie gleichzeitig fort, sonst wären die vier Kinder auf Heime verteilt worden. Wenn ein Elternteil von der Entziehung zurückkam, herrschte eine Weile Ruhe. Aber die Krankheit kam wieder – und der Wahnsinn nahm zu.
Mit vierzehn Jahren hatte für Khadidscha ein Wettlauf mit der Zeit begonnen. Nur noch vier Jahre, und sie war volljährig. Jeden Morgen betete sie, dass die Alten nicht vor ihrem achtzehnten Geburtstag abkratzten oder durchdrehten. Sie hatte sich schon erkundigt, was sie tun musste, um das Sorgerecht für ihre Geschwister zu bekommen. Sie war vorbereitet. Sie hatte mit einem allmählichen Abstieg, einem langsamen Verlöschen gerechnet – nie hätte sie gedacht, dass alles in einer Katastrophe enden würde. Es erwartete sie eine Apokalypse.
Sie war sechzehn: Kurz zuvor war sie in die elfte Klasse gekommen. Herbst war es, so viel wusste sie, an das genaue Datum konnte und wollte sie sich nicht erinnern. In dieser Nacht wurde der Albtraum Wirklichkeit. In dieser Nacht riss sie ein durchdringender Geruch aus dem Schlaf; Brandgeruch, den sie immer gefürchtet hatte und der jetzt auf einmal da war, ganz nah. Als sie die Augen aufschlug, sah sie nichts, im Zimmer war es stockdunkel. Ohne zu begreifen, was geschah, murmelte sie »Die Aschenbecher« und wusste sofort, dass es um ihre Eltern geschehen war.
Khadidscha sprang aus dem Bett, tastete nach ihren Geschwistern, die neben ihr schliefen, und rüttelte sie. Alle drei lagen leblos da, als wären sie direkt vom Schlaf in den Tod davongegangen. Khadidscha schrie, schlug, zerrte sie aus den Betten und schaffte es schließlich, sie zur Besinnung zu bringen. Sie öffnete das Fenster und befahl ihnen, sich dort hinzustellen und zu atmen – und sich nicht von der Stelle zu rühren.
Sie verließ das Zimmer und trat in den dunklen Flur hinaus. Entlang den glutheißen Wänden, die sie so wenig wie möglich berührte, tastete sie sich zu »ihrem« Zimmer. Sie wankte, halb betäubt von der Hitze, doch ihr Geist war
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