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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wach. Sie war schon nicht mehr in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. Sie schwor sich bei allem, was ihr heilig war, die »Kleinen«, ihre Kinder, ihre Geschwister niemals im Stich zu lassen.
    War die Tür wirklich rotglühend, wie in ihrer Erinnerung? Nein. Das war sicher eine Verzerrung im Nachhinein. Zumal sie die Tür mit einer Schulter aufgestoßen hatte, ohne sich zu verbrennen. Drinnen aber loderten wild die Flammen. Lichterloh brennend saß ihr Vater auf dem Bett, offensichtlich gleichgültig gegen das Feuer, das ihm das Gesicht zerfraß. Er war erstarrt, den einen Arm ausgestreckt zum letzten Schuss. Überdosis. Eine brennende Zigarette hatte den Rest besorgt.
    Khadidscha suchte nach ihrer Mutter und erkannte sie in der kauernden Gestalt, die mit knisternden Haaren am Vater lehnte. Sie sagte sich noch: Sie haben nichts gespürt, sie mussten nicht leiden, als im selben Moment die beiden Körper in sich zusammenfielen, in dem brennenden Bett versackten und alles Materielle verloren. Vielleicht war auch das eine Verzerrung, nur eine Einbildung, weil sie vor Tränen und Flammen halb blind war … Wie dieses letzte Bild, das sich ihr quälend einprägte: der ausgestreckte Arm ihres Vaters, der sich vom Rumpf löste und auf den Boden fiel – wie ein Holzscheit im offenen Kamin.
    Als Khadidscha wieder erwachte, lag sie in einem Krankenhausbett und atmete durch eine transparente Maske. Ein Arzt redete in unnatürlichem, gekünsteltem Tonfall auf sie ein. Ihre Geschwister seien gerettet, sagte er, aber sie müsse die Leichen ihrer Eltern identifizieren – sie sei doch die Älteste? Zwei Tage später wurde vor ihren Augen ein Schubfach in einer Kühlkammer aufgezogen. Die Eltern hielten sich umschlungen, unauflöslich miteinander verbunden; zwei schwarze, entfernt menschliche Gestalten, zusammengeklebt durch ein Netz geschmolzener Fasern.
    Bei der Konfrontation mit den verkohlten Leichen brach Khadidscha in hysterisches Schluchzen aus. Es war ein regelrechter Nervenzusammenbruch. Leute führten sie fort, versuchten sie zu beschwichtigen, redeten tröstend auf sie ein. Aber es gab keinen Trost: Blanker Hass überwältigte sie. Die Wut, der Groll, die Bitterkeit, über so viele Jahre hin angestaut, brachen endlich hervor, und der Anblick der unkenntlichen Leichen verschlimmerte ihre Raserei. Wieder waren sie über jede Anklage, jede Verurteilung erhaben. Wieder entzogen sie sich jeder Verantwortung und ließen ihre Kinder allein auf der Welt. Gottverdammte Scheiße. Draußen im Flur beruhigte sie sich ein wenig. Sie erinnerte sich an die Stimme des Arztes – nur daran, nicht an sein Gesicht. Eine süßliche Stimme, die sie zur Ruhe mahnte. Immer dieser Scheißton. Und die leeren Worte.
    Sie dachte, sie wäre die beiden Ungeheuer endlich los. Ein Irrtum. Der Psychologe warnte sie: Ein derartiger Schock – er sprach von einem »Hämatom des Affekts« – sei nicht leicht zu verarbeiten. Er hatte Recht. Unbemerkt hatte das Feuer von ihr Besitz ergriffen. Eine sichtbare Spur zeigte sich in einer Verbrennung am linken Unterarm, von der sie selbst gar nichts gespürt hatte. Noch lange blieb ihr davon eine Schildkrötenhaut, runzelig und gefurcht. Vor allem aber hatte sie innere Verbrennungen davongetragen. Jede Nacht kehrte das Feuer zurück. Mit seinen brennenden Augen sah der Vater sie an, wieder und wieder fiel sein Arm zu Boden, zerschlug ihre Träume, zerriss ihr das Herz. Niemand sah es, doch sie brannte bei lebendigem Leib. Jahrelang war Khadidscha überzeugt, einer verstrahlten Generation anzugehören, wie die Bewohner von Hiroshima, die bis in ihr Erbgut hinein verseucht waren und immer nur Krebs und monströse Kinder hervorbringen konnten.
    Das Feuer hatte noch weitere verheerende Folgen. Khadidscha war erst sechzehn und durfte das Sorgerecht für ihre Geschwister nicht übernehmen. Sie stellte den Antrag, vorzeitig für volljährig erklärt zu werden: abgelehnt. Die vier Geschwister wurden in verschiedenen Heimen untergebracht. Khadidscha ließ sich nicht unterkriegen: Jedes Wochenende fuhr sie nach Trappes, wo ihr Bruder sie erwartete, und anschließend nach Melun zu ihren Schwestern. Es half nichts. Zwei Jahre später, als sie endlich achtzehn war, waren sie einander fremd geworden. Ohne je darüber zu sprechen, wussten sie alle, dass diese Begegnungen nur die schlimmsten Erinnerungen in ihnen wachriefen. Die Schläge. Heroin. Das Feuer. Und die beiden Folterknechte, die ihnen die Kindheit vergiftet

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