Das schwarze Blut
gebeugt, sorgfältig seine Worte erwog.
»Eine Schleife, würde ich sagen … eine Art Spirale.«
»Setz dich wieder hin.«
Ein wenig beruhigt kehrte Jimmy auf seinen Platz zurück. Reverdi schlug seinen feierlichsten Ton an, in dem er seinen Tauchunterricht zu erteilen pflegte, und sagte:
»Das ist keine Narbe. Nicht im herkömmlichen Sinn – sie geht auf keine äußere Verletzung zurück. Das ist eine Pelade.«
»Eine Pelade?«
»Nach einem seelischen Schock, einem Trauma, kommt es vor, dass an einer Stelle des Schädels keine Haare mehr wachsen. Wie ein Mal auf der Haut.«
»Was … was für ein Trauma?«
Reverdi lächelte.
»Genug Geständnisse für heute. Du brauchst nur eines zu wissen: dass mir als Kind etwas zugestoßen ist. Von dem Schock ist mir dieses Muster zurückgeblieben, das sich meiner Haut eingebrannt hat. Eine Schleife, die an einen Skorpionschwanz erinnert.«
Dem Chinesen stand der Mund offen, sein Adamsapfel bewegte sich nicht mehr – er vergaß, den Speichel zu schlucken.
»Jeder andere hätte etwas unternommen, um die Haare nachwachsen zu lassen und dieses Mal zu verbergen. Ich nicht. Nur eine heimliche Verletzung bedeutet eine Schwächung.«
Wong-Fat starrte ihn immer noch an. Er zwinkerte viel zu schnell, als blendete ihn ein grelles Licht.
»Meine Verletzung ist kein Zeichen der Schwäche. Keine Behinderung. Sie ist ein Zeichen der Macht, das alle Welt sehen und akzeptieren muss. Verbirg niemals etwas, Jimmy. Weder deine Begierden noch deine Sünden. Dieses Laster, das du da hast, dein Verschleiß an Jungfrauen: Das ist der Fußabdruck, den du der Welt aufprägst.«
Reverdi legte abermals eine Pause ein und betrachtete den geradezu ekstatisch wirkenden Jimmy. Dann fegte er mit seinen Ketten durch die Luft und setzte in weniger gravitätischem Ton hinzu:
»Wenn du mein Freund sein willst, reiß die Scham aus deinem Herzen. Und rede nicht mehr in diesem herablassenden Ton mit mir. Erkläre mir nicht die Gesetze deines Landes. Du warst noch in den Windeln, als ich schon mit den illegalen Fischern getaucht bin, draußen vor Penang. Und erzähl mir vor allem nichts von Wahnsinn.«
Er verstummte. Dann brüllte er unvermutet: » Warden! «
Der Wärter stand auf und setzte sich in Bewegung.
In sanftem Ton, als reichte er eine aufgeschnittene Mango dar, fügte Reverdi hinzu:
»Deine Zigaretten kannst du wieder mitnehmen. Ich rauche nicht.«
KAPITEL 10
In seiner Bibliothek hatte er nicht gefunden, wonach er suchte.
Jetzt versuchte er sein Glück im Archiv des Limier: Das war riesig, ein einziges Labyrinth. Die Verlagsgruppe, der die Zeitung gehörte, hatte die Bestände mehrerer eingestellter Blätter aufgekauft, die bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert zurückreichten. Äußerlich wirkten diese Flure mit endlos aneinander gereihten Metallschränken, als würden Versicherungsverträge oder Personalakten der Sozialversicherung hier verwahrt. In Wirklichkeit bargen die Schränke einen großen Teil der Verbrechen der Menschheit – Mord, Vergewaltigung, Inzest. Alle denkbaren Schandtaten waren hier archiviert, sorgfältig geordnet nach Jahrgang, Nummer und Kategorie.
Mark hatte schon oft hier recherchiert, vor allem wenn er für die Rubrik »Die dunklen Fälle der Geschichte« schrieb, den Sonderteil des Limier, der sich mit den Verbrechen der Vergangenheit befasste. Neben dem eigentlichen Archiv gab es einen Lesesaal mit mehreren Tischen und einem Kaffeeautomaten. Eine echte Bibliothek.
Doch das Schlüsselelement jeglicher Recherche war der hauseigene Archivar, Jérôme, der offenbar zusammen mit den Archivbeständen eingekauft worden war. Seinen Nachnamen kannte Mark nicht. Der Mann redete, als hätte er sämtliche Prozesse und Ermittlungen, die hier abgelegt waren, persönlich miterlebt. Kein Name, kein Datum, die er nicht kannte. Äußerlich näherte er sich der Karikatur: Alterslos, ohne besondere Kennzeichen, trug er zu jeder Jahreszeit mehrere Pullover übereinander, die zusammengebacken waren: ein Blätterteig aus Wolle und Polyester. Auf Marks Nachfrage hatte Jérôme ihn zielsicher an die richtige Stelle verwiesen.
Während er an diesem Montagmorgen durch die eisernen Alleen ging, dachte Mark an sein Wochenende zurück. Jacques Reverdi war ihm keinen Moment aus dem Sinn gegangen. Zwanghafter Mörder. Wilde Bestie. Charmeur. Frauenheld … Die Worte des deutschen Anwalts und der kleinen Kambodschanerin gingen ihm im Kopf herum. Sicher hatten sie Recht; dennoch war er überzeugt, dass
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