Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
hatten.
    Khadidscha überließ die Geschwister ihrem Schicksal. Zu ihrem Besten. Obwohl das Schlimmste dabei herauskam. Samir, ihren Bruder, sah sie zum letzten Mal im Gefängnis von Fresnes, wo er nach einem Einbruch in ein Krankenhaus seine Strafe abbüßte. Während sie ihm im Besuchsraum gegenübersaß, erzählte er ausschließlich von einem RapperWettkampf im Knast, bei dem er mitmachte. Khadidscha hörte kaum, was er sagte: Sie beobachtete seine Schlägervisage und suchte darin vergebens den kleinen Samir, den sie geliebt, gehätschelt, beschützt hatte – der ständig Zahnlücken gehabt und den sie ihren »kleinen Wonneproppen« genannt hatte. Als die Besuchszeit vorbei war, wusste sie, dass sie nicht wiederkommen würde.
    Die Flammen schlugen hinter ihr zusammen.
Eine Stimme rief ihren Namen.
    Khadidscha sah sich verwirrt um: Der halbe Saal hatte sich geleert. Ein wenig taumelnd und in Gedanken noch immer bei ihren Erinnerungen folgte sie der Assistentin. Das Casting-Büro war nicht weniger schäbig als der Wartesaal: ein wüstes Durcheinander aus Pappkartons und abgenutzten Möbeln, durchzogen von kaltem Rauch.
    Hinter einem Metalltisch fläzten sich zwei Knaben mit Baseballkappen auf ihren Stühlen, betrachteten die vor ihnen ausgebreiteten Portfolios und unterhielten sich halblaut. Khadidscha kamen sie vor wie zwei vom vielen Masturbieren erschöpfte Jugendliche vor ihrer Sammlung alter Playboys. Wortlos reichte sie ihnen ihre Set-Card – schon lange machte sie sich nicht mehr die Mühe, unnütze Worte zu verlieren.
    Die beiden schauten sich ihre Fotos an. Sie sah nur die beiden Kappenschirme. Auf dem einen prangte das Logo der New Yorker, das ineinander verschlungene N und Y, auf dem anderen das Budweiser-Logo. Im Universum der Mode ist ab einer gewissen Höhe die Tendenz zum Spießertum ein zuverlässiger Wert. Das Gegenstück zur Ironie, allerdings in einer humorlosen Welt.
    Die beiden Typen fingen schließlich zu grinsen an. Khadidscha fuhr auf: »Was ist denn?«
Der eine hob den Kopf: sonnenstudiogebräunte Haut, Dreitagebart. Er zog ein einzelnes Foto aus der Präsentationsmappe und las den Namen, der darunter stand:
»Umwerfend sind sie nicht, deine Fotos, Kaditscha.«
»Chadidscha«, korrigierte sie, mit Betonung auf der ersten Silbe. »Das spricht sich Cha-di-dscha aus.«
»Jaja, schon gut«, gab er zurück und massierte sich den Nacken. »Wie auch immer, dein Buch sieht aus wie ein Versandkatalog.«
»Was stimmt nicht damit?«
»Der Rahmen, die Schminke, du. Alles.«
Khadidscha spürte das Feuer zurückkehren und unter ihrer Haut knistern.
»Was schlagt ihr vor?«
»Den Fotografen zu wechseln.«
»Meine Agentur hat mir …«
»Na, dann wechselst du eben auch die Agentur. Die Augenbrauen, gedenkst du da was zu tun?«
»Die Augenbrauen?«
»Ich erklär’s dir: Es gibt Rasierapparate. Es gibt auch Wachs. Oder Pinzetten. Aber dieses Gebüsch über den Augen, das geht ja wohl nicht.«
Der Mann lachte nicht mehr. Seine Stimme klang dumpf vor Ermattung. Khadidscha war bestimmt das fünfzigste Mädchen, das er seit dem Morgen demütigte. Der andere neben ihm blätterte weiter in den Portfolios und ließ dabei die Seiten aufeinander klatschen.
Ein Bild schoss ihr durch den Kopf: Sie sah ihren Vater vor sich, wie er zusammengesunken auf dem Sofa im Wohnzimmer saß und den Nachmittag damit zubrachte, auf dieselbe Weise in Zeitschriften zu blättern und starren Blicks die Seiten aufeinander klatschen zu lassen, bis es Zeit für den nächsten Schuss war … Diese Erscheinung ließ sie ihre Fassung wiedergewinnen – die permanente Auflehnung, die ihr Wesen ausmachte wie ein inneres Gerüst aus Titan. Lächelnd nahm sie ihr Buch wieder an sich. Mehr denn je war sie entschlossen, ihnen zu gefallen, sie zu verführen.
Sie würde sie mit den eigenen Waffen schlagen.
Bald wären sie es, die vor Begierde loderten.
Und die Fackel, die sie in Brand setzte, wäre ihr Körper.
KAPITEL 12
    Die Tage vergingen, doch der Ablauf blieb immer derselbe. Um fünf Uhr Wecken. Durch die Fensterluke gewahrte er das Dunkelblau der Nacht. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er die anderen Gebäude sehen. Lichter flackerten hinter den Fenstern. Die ersten Geräusche wurden vernehmlich – Husten, Pinkeln, Wasserrauschen. Der Lärm setzte ein, noch gedämpft zwar, aber durchsetzt von Klirren, Murren, Rufen. Das riesige Tier erwachte.
    Um sechs Uhr ging das Licht an.
Die anämische Helligkeit der Sechzigwattbirnen, ein

Weitere Kostenlose Bücher