Das schwarze Blut
dumpfer Schmerz unter den Lidern. Als Kontrapunkt dazu die schwerenSchritte der Wärter, die durch die Flure marschierten, an jede Tür hämmerten, den Hof durchquerten. Das war die Stunde der Übelkeit. Nach und nach drang Jacques – schon jetzt unerträglich – jede einzelne Empfindung ins Bewusstsein.
Die Mauern zu nah. Die Hitze erdrückend. Die Kakerlakenstraße entlang seiner Matte. Und die Gerüche. Trotz des ständigen Kampfes um Sauberkeit war Kanara eine Beute galoppierender Verrottung. In jedem Stein, jeder Kachel, jeder Ritze saß die Feuchtigkeit. Selbst auf dem Höhepunkt der Trockenzeit nistete der Monsun in aller Materie.
Dazu die menschlichen Gerüche: Urin, Kot, Schweiß … Das Gemenge organischer Ausdünstungen schien sich zwischen diesen Mauern zu verdichten, zu einer festen Masse zu gerinnen. Dann, schon zu dieser Stunde, die Küchendüfte: schwer, fettig, zäh. Das Frühstück war auf dem Weg. Bis dahin hieß es aber noch etliche Torturen überstehen.
Sieben Uhr.
Der Appell.
Die Krankheit der Gefängnisse. Das Ritual des Appells – muster auf Malaiisch – wiederholte sich fünfmal täglich. Es war schon keine Kontrolle mehr, es war eine Beschwörung; als könnte diese Litanei den bloßen Gedanken an Flucht verhindern.
Das harte Schrammen zurückgeschobener Riegel. Knarzende Türen. Dumpfes Getrappel zahlloser Schritte. Auf die Dauer wurden einem diese Geräusche so vertraut, so intim wie der eigene Herzschlag. Die Versammlung im Hof unter dem großen Segeldach. Beim Anblick all der Männer nahm Jacques’ Übelkeit zu. Zweitausend Knastbrüder, wie zerknüllte Papierkugeln auf dem Boden kauernd, zu Nummern geworden.
Sieben Uhr dreißig.
Die Nationalhymne, in praller Sonne.
Dann endlich die Frühstücksausgabe. Die Gefangenenschwärmten aus, um entlang dem Kantinenbau eine Warteschlange zu bilden. Anschließend verteilte sich der Ameisenhaufen im Hof – kleine Punkte, die sich auf den morgendlichen Brei konzentrierten.
Jacques nutzte die Gelegenheit, um die Duschen aufzusuchen. Bewaffnet mit seinem gayong – einer Plastikbox mit Seife, Zahnpasta und Rasierzeug –, über der Schulter sein Handtuch und ein frisches T-Shirt, verschwand er in dem Gebäude dreihundert Meter hinter der Kantine. Zwar hatte er eine eigene Dusche in seiner Zelle, aber es ging eben nichts über dieses Duschen unter freiem Himmel, diesen Augenblick der Einsamkeit zwischen den großen Wassertanks. Er folgte seinem eigenen Appell – dem Ruf des Wassers …Acht Uhr.
Der Frondienst begann.
Die Arbeiten, die dabei verrichtet werden mussten, wechseltenwochenweise. Jetzt, Ende Februar, mussten die Tore und Gitterstäbe des Gefängnisses abgeschliffen werden, damit die Maler anschließend einen Rostschutz auftragen konnten. Mit einem Tuch vor dem Gesicht raspelten, feilten, schabten die Gefangenen drauflos, bis sie von einer Schicht Metallstaub überzogen waren, sodass sie selbst wie Gitterstäbe aussahen.
Neun Uhr, Ende des Frondienstes.
Die Werkstätten wurden geöffnet.
Éric hatte ihm ja schon Bescheid gesagt: AlsUntersuchungshäftling durfte Reverdi nicht in der Werkstatt arbeiten. Er blieb also bei den Alten, Gebrechlichen, Kranken zurück. Allmählich begann die Hitze zu großer Form aufzulaufen.
Stunde um Stunde wuchs sie zu einem unkontrollierbaren Wesen heran, einer Macht ohne Grenzen. Jacques ließ sich unter dem Segeldach nieder, wahrte seine Einsamkeit und schottete seine Ohren gegen das Gefasel der anderen ab, die in ihrem Dialekt vor sich hin plapperten: Tratsch, Gerüchte, Geschichten von amok und kris – diesem malaiischen Dolch mit doppelschneidiger, schlangenförmig gekrümmter Klinge, die als blutrünstig gilt.
Um zehn Uhr begann der Sport.
Lockerungsübungen. Bauchmuskeltraining. Liegestütze. Dann die Hanteln: Hier behalf man sich mit Bausteinen. Normalerweise trainieren Häftlinge, um nachher, wenn sie wieder draußen sind, stärker zu sein, gefährlicher. Was in seinem Fall natürlich sinnlos war. Für ihn war es eine Frage der Einstellung: Er wollte in Bestform sterben. Im Moment genoss er es sogar, seinen Körper wach zu halten. Die Kraft zu spüren, die unter seiner Haut dahinrann wie Licht, wie ein goldgelbes Öl, das jeden Muskel, jede Faser seines Fleisches umschloss …Noch einen weiteren Vorteil hatte diese Zurschaustellung: Sie demonstrierte den anderen seine Körperkraft. Während er trainierte, spürte er die Augen, die ihn durch die Fenster der Werkstätten beobachteten.
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