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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Vorführung war keine Unterhaltung gewesen. Nein, dieser Fettkloß interessierte ihn nicht, ganz und gar nicht.
»Ihre Post. Die hätte ich beinahe vergessen.«
Jimmy warf einen dicken braunen Umschlag auf den Tisch.
»Bitten um Interviews. Anwälte, die Sie verteidigen wollen. Liebesbriefe.« Er grinste. »Ein echter Star.«
Mit zwei Fingern spreizte Reverdi die Oberkanten des Umschlags. Alle Kuverts waren aufgeschlitzt.
»Hast du sie gelesen?«
»Alle haben sie gelesen. Schließlich sind Sie in Kanara, nicht im Sheraton.«
Wong-Fat war wieder der Schweiß ausgebrochen, und er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
»Der Gefängnisdirektor hat von Ihrer Botschaft einen Übersetzer kommen lassen, weil er wissen wollte, worum es geht. Danach musste ich sämtliche Briefe von den Wärtern zurückkaufen. So ist die Regel.«
Jacques zog ein paar Briefe hervor:
»Hol dir den Betrag von meinem Konto.«
»Schon geschehen.«
Die Adressen waren von Hand geschrieben. Manche betrachtete er länger: runde, gepflegte Schriften. Frauenhandschriften. Er legte seine Ketten auf dem Boden ab und raunte, ohne seinen Anwalt anzusehen:
»Danke schön. Bis zum nächsten Mal.«
KAPITEL 14
    Wieder in seiner Zelle, breitete Reverdi seine Post auf dem Boden aus. An die hundert Briefe, mindestens. Plötzlicher Stolz überkam ihn. Noch keine drei Wochen war er in Kanara eingesperrt, und schon strömten die Briefe aus allen Ecken Europas, mit Frankreich an der Spitze. Er sortierte die Post nach drei Kategorien und machte sich an die Lektüre. Die Medien zuerst. Die Bitten um ein Interview überflog er nur. Vier Briefe von Verlegern gesellten sich dazu: »Warum schreiben Sie nicht Ihre Memoiren?« Noch rascher durchblätterte er die nächste Gruppe, die offiziellen Schreiben. Die französische Botschaft hatte mehrere Anfragen an ihn gerichtet und wunderte sich über sein Schweigen. Mit einer Sendung leitete sie Briefe von französischen Anwälten weiter, Profis auf dem Gebiet des internationalen Rechts, die schon mehr oder minder ähnlich gelagerte Fälle bearbeitet hatten – von Europäern, die wegen Drogengeschäften in Südostasien inhaftiert waren – und ihm ihre Unterstützung anboten. Es waren sogar etliche darunter, die ausdrücklich auf ein Honorar verzichteten. Ihre Absicht war klar: Wer Reverdi verteidigte, hatte die Garantie, dass sich bei der Verhandlung die Blicke der Welt auf ihn richteten. Des Weiteren gab es Anfragen von humanitären Organisationen, die sich vergewissern wollten, dass seine Haftbedingungen korrekt seien. Zum Totlachen.
    Er warf den ganzen Krempel in eine Ecke.
Dann nahm er sich die Briefe der Privatpersonen vor. Weitaus aufregender, egal, aus welchen Beweggründen sie geschriebenworden waren – Hass, Anteilnahme, Faszination, Liebe … Es dauerte über eine Stunde, bis er sie alle gelesen hatte, und am Ende war er wieder nur enttäuscht: Ein Brief war stumpfsinniger als der andere. Die Schmähungen und Sympathiebekundungen hielten einander die Waage im Mittelmaß.
    Aber die Form interessierte ihn. Was zwischen den Zeilen stand, aus Formulierungen herauszulesen war: An jedem Komma spürte er Angst, Erregung, Anziehung. Auch die Handschrift liebte er – den Ausdruck des Kontakts zwischen Hand und Papier, die sichtbare Spur eines Schauderns am Ende jedes Wortes. Es war, als hätten ihm diese Frauen – es gab praktisch nur Briefe von Frauen – ins Ohr geflüstert. Oder ihm sacht über die Haut gestrichen. Wie Bambusblätter. Er schloss die Augen und ließ sich von der Erinnerung liebkosen. Das Laub. Das Gemurmel. Der Weg, dem er zu folgen hatte …Dann begann er noch einmal von vorn und studierte im schwachen Licht seiner Glühbirne jeden Brief in allen Details. Er zählte Rechtschreib- und Grammatikfehler. Er wunderte sich über die Banalität der Texte. Und ärgerte sich über die Vertraulichkeit der Anrede. Hass, Mitgefühl oder, was noch schlimmer war, Verständnis und Liebe bekundeten die Briefschreiberinnen in einem intimen, viel zu intimen Ton.
    Ein Brief stach in dieser Kategorie besonders heraus. In seiner Naivität war er beinahe bemerkenswert. Reverdi las ihn mehrmals mit einem zwiespältigen Gefühl, einer Mischung aus Verachtung und Zorn.
    Paris, den 19. Februar 2003 Sehr geehrter Herr, darf ich mich Ihnen vorstellen: Ich heiße Elisabeth Bremen, bin vierundzwanzig Jahre und schreibe an meiner Diplomarbeit im Fach Psychologie an der Universität Nanterre (Paris X) über das Thema Profiling,

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