Das schwarze Blut
tatsächlich gescheitert – war dies die erste und letzte Antwort, die er je von Reverdi bekäme? Oder verbarg sich hinter der offensichtlichen Abfuhr doch eine kleine Hoffnung?
Er las den Brief noch einmal. Mehrmals. Und schließlich entschied er: ein Sieg! Hier und dort sah er winzige Anzeichen der Ermutigung zum Vorschein kommen. Zugegeben, er hatte sich in der Form vergriffen, doch der Mörder verschloss ihm nicht die Tür.
Was wissen Sie überhaupt von mir? Welches sind Ihre Informationsquellen – Zeitungen? Dokumentarfilme? Von anderen verfasste Bücher? Glauben Sie, auf solchen Wegen einen Menschen begreifen zu können?
Mark war versucht, sich den Abschnitt so zu übersetzen: »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, suchen sie die Quelle auf. Stellen Sie mir die richtigen Fragen.« Wahrscheinlich ließ er sich von Wunschträumen hinreißen – trotzdem war er überzeugt, dass Reverdi sich nicht erst die Mühe gemacht hätte zu schreiben, wäre es ihm nur darum gegangen, Elisabeth zu beschimpfen. Mark entdeckte weitere Köder zwischen den Zeilen:
… nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich allein entscheide, was für mich das Absolute ist, und dass dies alles anderen Menschen nicht zugänglich ist.
Reverdi sagte nicht: »Ich bin unschuldig.« Er sagte: »Sie verstehen nicht.« Stachelte er ihre Neugier damit nicht erst recht an? Mark lief es kalt über den Rücken. Er hatte schon immer gewusst, dass Jacques Reverdi nicht einfach ein Serientäter war, ein »zwanghafter Mörder«, um mit Erich Schrecker zu sprechen.
Diese Morde standen in einem tieferen Zusammenhang. Sie hatten ein Ziel.
Er lächelte. Ja, letzten Endes war sein Coup gelungen. DerFrontalangriff hatte Reverdi irritiert und erbost, aber auch zu einer Reaktion genötigt. Und dieser Brief war eine indirekte Aufforderung zu graben, zu fragen, sich nicht mit dem äußeren Schein zufrieden zu geben.
Mark, der noch immer seine weißen Handschuhe trug, langte nach dem Briefblock und der Füllfeder, die er für Elisabeth reserviert hatte. Er musste sofort antworten. Aus dem unmittelbaren Eindruck heraus. Elisabeth musste ihm klar machen, dass sie sehr wohl in der Lage war, ihre Methode zu ändern, dass sie durchaus einfach nur zuhören, verstehen, sich führen lassen konnte …Zuerst aber: Schuldbekenntnis und Reue.
KAPITEL 17
Paris, Montag, den 10. März 2003Lieber Jacques, soeben erhalte ich Ihren Brief. Ich bin erschrocken und zutiefst gedemütigt. Werden Sie mir meine Ungeschicktheit je verzeihen? Wie konnte ich nur so dumm sein? Nichts liegt mirferner, als Ihnen schaden zu wollen. Oder Sie gar zu beleidigen …In der Tat hatte ich das Problem der Zensur nicht bedacht und muss gestehen, dass ich keine Ahnung von den Regeln und Gepflogenheiten in den malaiischen Gefängnissen habe. Dass manche meiner Formulierungen womöglich als Bestätigung von Fakten ausgelegt werden können, die keinesfalls erwiesen sind, bedaure ich zutiefst. Auch hier bekenne ich meine Unwissenheit: Der gegenwärtige Stand der Ermittlungen ist mir unbekannt. Meine Informationen beschränken sich auf das, was aus der französischen Presse zu erfahren war.
Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung! Ganz gewiss wollte ich Ihre Situation gegenüber der Justiz nicht verschlechtern! Aber lassen Sie mich Ihnen die tieferen Gründe meiner Bitte mitteilen. Ich kannte Sie schon lang vor den Ereignissen in Malaysia – und in Kambodscha. Ich kenne Sie aus Ihrer Zeit als aktiver Leistungssportler: Seitdem ich mit acht Jahren den Film »Der Rausch der Tiefe« gesehen habe, begeistere ich mich fürs Freitauchen. Der Film hat mich völlig hingerissen, und ich habe mir immer wieder stundenlang ausgemalt, welche Empfindungen der Mensch dort unten in der Tiefe wohl hat. Wie es sich anfühlt, immer tiefer, weit über unsere natürlichen Grenzen hinaus, abzusteigen, ohne zu atmen. Schon damals war Ihr Name ein leuchtender Stern am Himmel meiner heimlichen Helden. Heute beschuldigt man Sie des Mordes. Sie wünschen nicht darüber zu reden: Ich respektiere Ihr Schweigen. Doch Ihre Persönlichkeit ist darum nicht weniger faszinierend. Paradoxerweise sind die Taten, die man Ihnen heute zur Last legt, so weit entfernt von Ihren sportlichen Leistungen, von Ihrem Image eines abgeklärten Mannes, der seinen inneren Frieden gefunden hat, dass mein Interesse an diesem Zwiespalt nur noch gewachsen ist. Das hypothetische Band zwischen der blauen Tiefe und der extremen Nacht, diese unmögliche Wanderung zwischen
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